Mörder in weißen Kitteln wurden selten bestraft -
Bundespräsident Steinmeier gedachte in der Berliner Tiergartenstraße der nationalsozialistischen Euthanasie



Unter dem Deckmantel der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in der Tiergartenstraße 4 waren Ärzte und Pflegepersonal mit dem Aufbau und Betrieb der über das ganze Reich verteilten Tötungsanstalten und der Entwicklung von effektiven Mordmethoden befasst, weshalb die Adresse der 1939 von Hitler persönlich angeordneten Geheimaktion den Tarnnamen T 4 erhielt. Die vor zehn Jahren eingeweihte Gedenkstätte unweit der Berliner Philharmonie dokumentiert die lange verdrängten und vergessenen Massenmorde.

 

Die Villa Tiergartenstraße 4 steht schon lange nicht mehr. Die Topographie des Terrors erinnert mit einer Schautafel, wie die Deutschen propagandistisch für den Massenmord reif gemacht wurden. Eine weitere Tafel zeigt ein Propagandaplakat, das in der NS-Zeit Stimmung gegen Kranke und Schwache machte.

 

Die in Bussen herbei gebrachten Menschen stammten aus weiten Teilen Deutschlands sowie aus den von der Wehrmacht überfallenen Ländern Europas. Ein 2008 für wenige Monate aufgestellter Omnibus aus grauem Beton nahe der Berliner Philharmonie erinnerte an die Massenmorde an kranken und hilflosen Menschen.



Auf dem Gelände des Klinikums Berlin-Buch wird an die hier ermordeten „Reichsausschusskinder“ erinnert. Die Gedenktafel in Brandenburg an der Havel zeigt den Todeskampf eines Kranken.



Ein Denkmal aus grob behauenen Steinen an der Hobrechtsfelder Chaussee in Berlin-Buch ist den Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde gewidmet, die man verharmlosend auch Gnadentod nannte.

(Fotos: Caspar)

In der Nähe der Berliner Philharmonie
erinnert seit zehn Jahren eine Gedenkstätte an die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde. Sie klärt auf, dass in einer Villa mit der Adresse Tiergartenstraße 4 die von den Nationalsozialisten organisierte Ermordung von Kranken und Behinderten geplant und überwacht wurde. Die Ausstellung unter freiem Himmel macht mit Schicksalen von Menschen bekannt, die in der Nazisprache „Ballastexistenzen“ und „lebensunwertes Leben“ hießen und denen man in zynischer Weise vorrechnete, dass ihre Betreuung und Ernährung weitaus mehr kosten als einer „normalen“ Arbeiterfamilie zur Verfügung steht.

Von der „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ in der Tiergartenstraße 4 gingen in den späten 1930-er Jahren Befehle an psychiatrische Anstalten, Kliniken und Heime, die dort untergebrachten Erwachsenen und Kinder durch Giftgas und Giftspritzen sowie durch Aushungern und auf anderem Wege zu ermorden. SS-Ärzte und Pflegepersonal waren mit dem Aufbau und Betrieb der über das ganze Reich verteilten Tötungsanstalten und der Entwicklung von effektiven Mordmethoden befasst, weshalb die Adresse Tiergartenstraße 4 der von Hitler persönlich angeordneten Geheimaktion den Tarnnamen T 4 erhielt. Im Unterschied zur Gestapo- und SS-Zentrale an der Berliner Wilhelmstraße, der heutigen Topographie des Terrors, blieb das, was in der kaiserzeitlichen Villa und in den Tötungsanstalten geschah, nach dem Ende der NS-Diktatur und Zweiten Weltkrieg lange Zeit unbekannt und weitgehend ungesühnt.

Spätes, aber nicht zu spätes Gedenken
Wichtigster Gesichtspunkt bei der Mordaktion war der „Unwert“ der Patienten für die Volksgemeinschaft. Ärzte, Pflegende und Funktionäre urteilten unbarmherzig nach Kriterien wie Heilbarkeit, Bildungsfähigkeit oder Arbeitsfähigkeit über die ihnen anvertrauten Personen. Wer durchs Raster fiel, war des Todes. Dem Massenmord fielen von 1939 bis zum Kriegsende 1945 zwischen 200 000 und 300 000 kranke und wehrlose Männer, Frauen und Kinder zum Opfer. Manche waren debil und dement, manche waren aber nur Bettnässer, aufsässig, querulant und unbequem. Es gab auch politische Gefangene mit ganz normalen Berufen, derer man sich nicht nur in Konzentrationslagern und Zuchthäusern, sondern auch ganz still in Kliniken und Pflegeheimen entledigte. Um die Angehörigen zu täuschen, hat man auf den Totenscheinen gefälscht und unverdächtige Todesursachen und Ortsangaben vermerkt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte in einer Feierstunde in Berlin zu „Zehn Jahre Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde“, es sei wichtig, „dass wir seit zehn Jahren diesen Ort des Gedenkens und der Information haben.“ Er sei beschämt, dass es so lange, ja viel zu lange gedauert hat, bis diesen so viele Jahre, ja Jahrzehnte vergessenen Opfern nationalsozialistischer Mordpolitik ein würdiger Ort des Gedenkens gestaltet worden ist. So lange bekamen sie keine Anerkennung als die ersten kollektiven Opfer des Nationalsozialismus. Ihre Nachkommen und Verwandten, wir alle haben hier endlich einen Ort, um ihrer zu gedenken. Zu danken ist das dem entschiedenen, auch ausdauernden Engagement Einzelner. Ich nenne stellvertretend Ernst Klee, Götz Aly und die unermüdliche Sigrid Falkenstein. Ich nenne den anschließenden Runden Tisch unter der Ägide von Andreas Nachama. Ohne sie und ohne diejenigen, die sie überzeugen konnten mitzutun, gäbe es diesen Ort und diese Feierstunde heute nicht. Vielen Dank!“ Hinter den Zahlen stünden einzelne Menschen, einzelne, unverwechselbare Lebe, sagte Steinmeier und zitierte Karl Schuhmann, der in Hartheim in Oberösterreich wohnte, wo sich eine der sechs im Deutschen Reich verteilten Mordanstalten der „Aktion T 4“ befand, mit diesen Worten: „Jedesmal, wenn ein Transport angekommen war, konnte man kurze Zeit später eine große schwarze Rauchwolke beobachten.“

Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder, auf deren Akte das Kürzel RA vermerkt wurde, wurden ermordet. Im Krieg wurden solche Jungen und Mädchen dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ übergeben und in verschwiegene Kliniken gebracht, wo sie qualvoll ums Leben kamen. Wehr- und hilflosen, von ihren Eltern getrennten Kindern hat man tödlich dosierte Medikamente gegeben. Das Personal verweigerte seinen Schützlingen Nahrung, so dass sie elend zugrunde gingen. Der Begriff Kinderfachabteilung gaukelte den Angehörigen vor, dass sich die Kinder in der Obhut von geschultem Fachpersonal befinden und Sorgen um sie unbegründet sind.

Gedenkstätte unweit der Philharmonie
In den meisten Familien, in denen es Fälle von NS-Euthanasie gab, sprach man ungern über das Thema. Es kam erst in den 1980- und 1990-er Jahren auf und führte unter anderem dazu, dass an der Berliner Tiergartenstraße unweit der Philharmonie ein Ort des Gedenkens entstand. Die Strafen, die nach 1945 über Ärzte sowie das Pflegepersonal ausgesprochen wurden, fielen unterschiedlich aus. Sie reichten von Todesstrafe in besonders schlimmen Fällen bis zum Freispruch aus Mangel an Beweisen. In seinem Buch „Die kalte Amnestie“ hat Jörg Friedrich über Gerichtsverfahren in den damaligen Westzonen und der frühen Bundesrepublik Deutschland berichtet und gezeigt, mit welchen Tricks und Kniffen versucht wurde, sich aus der Verantwortung unter Berufung auf Führerbefehle zu stehlen und sogar die Tötung der Kranken und Schwachen als humanitäre Erlösungstat zu deklarieren.

Die Strafen, die nach 1945 über Ärzte sowie das Pflegepersonal ausgesprochen wurden, fielen unterschiedlich aus. Sie reichten von Todesstrafe in besonders schlimmen Fällen bis zum Freispruch aus Mangel an Beweisen. Manche Täter entzogen sich der Strafe durch Selbstmord oder tauchten unter wie der KZ-Arzt Dr. Horst Fischer. An dem ehemaligen Lagerarzt des KZ Auschwitz III Monowitz, der an der Rampe über Tod und Leben entschied, hat die DDR ein Exempel statuiert.. Nach dem Krieg war Fischer unter seinem richtigen Namen in Golzow bei Brandenburg an der Havel und später in Spreenhagen im Kreis Fürstenwalde als Landarzt tätig. 1964 wurde das Ministerium für Staatssicherheit auf Fischers Tätigkeit als Lagerarzt in Auschwitz 1943/44 aufmerksam. Ihm wurde der Prozess gemacht, an dessen Ende das Todesurteil und die Hinrichtung standen. Dr. Werner Heyde, einem anderen Mörder im Ärztekittel, gelang unter dem Falschnamen Dr. Fritz Sawade eine Anstellung als Sportarzt in Flensburg. Mit Unterstützung eines Kollegen, dem er seine wahre Identität offenbarte, erhielt er die Möglichkeit, tausende nervenärztliche Gutachten für das Oberversicherungsamt in Schleswig-Holstein zu erstellen und erlangte so ein überdurchschnittliches Einkommen.Nach seiner Verhaftung kam heraus, dass etliche Juristen und Mediziner in Schleswig-Holstein die Identität des Massenmörders kannten. Einem vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer angestrengten Prozess entzog er sich durch Suizid. Sein Abschiedsbrief endet mit diesen Worten: „Vor Gott trete ich gefasst und unterwerfe mich seinem Spruch. Ich habe nichts Böses gewollt, soweit ich dies als Mensch zu beurteilen vermag. Er wird entscheiden.“

Widerstand gegen Führerbefehl
Es bleibt festzuhalten, dass sich nicht nur in beiden christlichen Konfessionen Widerstand gegen den massenhaften Krankernmord regte. Auch in Kreisen, die dem Regime nahe standen, war das Verständnis für die Maßnahme oft gering. Weit aus dem Fenster lehnte sich der Richter Lothar Kreyssig, der 1933 mit dem Argument, seine Unabhängigkeit bewahren zu wollen, der NSDAP nicht beitrat und als evangelischer Christ zum Präses der Synode der Bekennenden Kirche in Sachsen gewählt wurde. Von der Gestapo beobachtet, aber als Vormundschaftsrichter in Brandenburg an der Havel weiter tätig, prangerte er als einziger seiner Gilde die Euthanasiemorde an. Als er 1940 dem Reichsjustizminister Franz Gürtner seinen Verdacht meldete, sie könnten ermordet worden sein, wurde ihm gesagt, die Aktion sei von Hitler veranlasst worden und stehe unter seiner Verantwortung. Darauf zeigte Kreyssig NSDAP Reichsleiter Philipp Bouhler, der Hitlers Beauftragter für die Aktion T 4 war, wegen Mordes an.

Der zu Gürtner zitierte Kreissig ließ sich nicht einschüchtern und erklärte: „Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten.“ Weil er sich einem Führerbefehl widersetzt hatte, wurde Kreyssig zwangsweise beurlaubt, blieb aber am Leben. Nach dem Ende der NS-Diktatur verließ er die Sowjetische Besatzungszone, war im Westen an leitender Stelle für die Evangelische Kirche tätig und gründete mit anderen die „Aktion Sühnezeichen.“

15. Oktober 2024