„Hitler muss fallen, damit Deutschland lebe“
Vor 80 Jahren wurde in der Sowjetunion das Nationalkomitee Freies Deutschland gegründet



Walter Ulbricht, der spätere SED-Chef und DDR-Staatsratsvorsitzende, war ein führender Kopf im NKFD. Er und andere forderten die Wehrmachtssoldaten auf, sich gegen Hitler zu erheben und die Fronten zu wechseln.



Die Anti-Hitler-Propaganda forderte die Deutschen auf, sich gegen den Nazikrieg und für die Freiheit zu den entscheiden.



Der Jungkommunist und spätere SED-Dissident Wolfgang Leonhard (1921-2014) beschreibt in „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ seine Zeit beim NKFD und warum er sich Jahre später zur Flucht in den Westen entschlossen hat, was ihm sowohl den seiner früheren Genossen als auch die Bewunderung von Menschen eintrug, die diesen Schritt nicht wagten.



Kurz vor der deutschen Niederlage in Stalingrad ernannte Hitler Friedrich Paulus am 30. Januar 1943 zum Generalfeldmarschall in der Erwartung, dass sich dieser der Gefangenschaft durch Selbstmord entzieht. Für das NKFD war er ein ansehnliches Aushängeschild, mit dem sich gut antifaschistische Politik machen ließ.



Wer in der Wehrmacht mit „Feindpropaganda“ oder beim Wechseln der Fronten erwischt wurde, kam vors Kriegsgericht und wurde erschossen. Lockerung der Kriegsmoral und Defätismus waren streng verboten, der überall ausgehängte Kriegsartikel war unerbittlich.



Die durch die Nazipropaganda irregeführten Deutschen konnten sich „Russen“ nur als Bestien vorstellen. Wolfgang Leonhard und seine Genossen stellten ihre ganze Kraft in den Dienst der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, hatten damit aber in der DDR wegen der angespannten politischen Lage und der von vielen Menschen missbilligten Omnipräsenz der „Freunde“ nur begrenzen Erfolg.



Die Mühen des NKFD um Überläufer waren begrenzt, zu stark war das Misstrauen der deutschen Soldaten und Offiziere gegenüber den Versprechungen des Nationalkomitees und vor Vergeltung durch die Sowjetunion.



Was von Goebbels' Verheißungen zu halten ist, entlud sich nach dem Ende der Naziherrschaft in sarkastischen Parolen, Liedern und Bildern. (Repros: Caspar)

Am 12. Juli 1943 gründen deutsche kommunistische Emigranten und Kriegsgefangene auf Initiative der sowjetischen Führung im Lager Krasnogorsk bei Moskau das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ (NKFD). Es rief Wehrmachtssoldaten auf, Hitler den Gehorsam zu verweigern, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Befehlsverweigerung und Fahnenflucht standen im Deutschen Reich unter schwerster Strafe und wurden mit dem Tod geahndet. Die Familien der feigen Landesverräter, wie die Nazipropaganda sagte, verfielen der Sippenhaft, und das wussten auch diejenigen, die sich entschlossen hatten, die Fronten zu wechseln. Im September 1943 entschlossen sich einige der bei Stalingrad gefangen genommenen deutschen Generale, das NS-Regime zu bekämpfen. Der Bund Deutscher Offiziere (BDO) ging kurz darauf im NKFD auf, das unter den alten Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot alles dafür tat, nationalkonservative, ja auch monarchistisch eingestellte Militärangehörigen auf seine Seite zu ziehen.

Appelle an das Gewissen

In seinem Gründungsmanifest knüpfte das Nationalkomitee an die Volksfrontbestrebungen der 1930er Jahre an und sprach Regimegegner unterschiedlicher Herkunft und politischer Orientierung an. Das NKFD gab die Wochenzeitung „Freies Deutschland“ und die Illustrierte „Freies Deutschland im Bild“ heraus und verteilte zahlreiche Flugblätter, deren Besitz Wehrmachtssoldaten und Zivilisten den Kopf kosten konnte. Erkennungsmelodie des Radiosenders „Freies Deutschland“ war das Vaterlandslied von Ernst Moritz Arndt, in dem es heißt: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, / der wollte keine Knechte, / drum gab er Säbel, Schwert und Spieß / dem Mann in seine Rechte; / drum gab er ihm den kühnen Mut, / den Zorn der freien Rede, / dass er bestände bis aufs Blut, / bis in den Tod die Fehde“. Über Lautsprecherwagen wurden Appelle an das Gewissen der Soldaten auf der anderen Seite sowie Ansprachen des Generals Walther von Seydlitz-Kurzbach, des ehemaligen Divisionspfarrers Friedrich-Wilhelm Krummacher sowie von den Kommunisten Walter Ulbricht, Anton Ackermann sowie Erich Weinert verbreitet.

Einsichten in das Innenleben des Nationalkomitees und nach 1945 in die Machenschaften der Führungsschicht in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise nach dem 7. Oktober 1949 der DDR vermittelt Wolfgang Leonhard in seinem erstmals 1955 und danach in zahlreichen Auflagen gedruckten Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Der Verfasser begann seine politische Karriere als zuverlässiges Mitglied der KPD beziehungsweise seit 1946 der SED. Der kenntnisreiche und wortgewandte Propagandist des Marxismus-Leninismus, der 1945 mit der Gruppe Ulbricht nach Berlin kam, wirkte am Wiederaufbau in Ostdeutschland mit.

Bei seinen Fahrten durch das ganz vom Wohl und Wehe der Sowjetischen Besatzungsmacht abhängige Gebiet zwischen Elbe und Oder und Gesprächen mit Funktionären und einfachen Leuten sah der Autor von Schulungsheften und Propagandamaterialien immer deutlicher die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, Oben und Unten. Zwar galt in diesen Kreisen das Prinzip „Kritik und Selbstkritik“, doch wer das Tun und Denken der „führenden Genossen“, ihren ganz dem Stalinismus ergebenen Dogmatismus und ihre ungenierte Selbstversorgung mit Lebensmittelpaketen, den so genannten Pajoks, sowie mit einträglichen Posten, Wohnungen und Kleidung einer kritischen Sicht unterzog und sich darüber mit anderen austauschte, musste um seine Freiheit und Arbeitsstelle fürchten und wurde als Parteifeind gemaßregelt.

Flucht über Jugoslawien in den Westen

Der Sohn einer Kommunistin, die vor dem Hitlerregime in die Sowjetunion geflohen und unter Stalins Terror leiden musste, durchschaute das üble Spiel und überwarf sich mit der ganz auf die stalinistische Sowjetunion orientierten SED. Deren vergleichsweise luxuriöses Leben in der „Städtchen“ genannten Funktionärssiedlung Niederschönhausen im Ostberliner Bezirk Pankow lernte er bei regelmäßigen Besuchen kennen und verachten. Die Folge war 1949 seine Flucht über Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland. Dass sich ein junger Funktionär, der zehn Jahre in der Sowjetunion gelebt, erzogen und ausgebildet worden war, seiner Partei und ihrer Führung entzog, konnte nur die Tat eines gewissenlosen Renegaten und Agenten gewesen sein, hieß es damals in Ostberlin. Es wurden alle Vorkehrungen getroffen, dass sich dieses Beispiel nicht wiederholt. Spätere „Fälle“ zeigen, dass sich treue Genossen nicht länger bevormunden und eigenes Denken nicht verbieten lassen wollten. Sofern die SED und ihr langer Arm, das Ministeriums für Staatssicherheit, ihrer habhaft wurde, hagelte es Parteiausschlüsse, Degradierungen, Arbeitsverbot und Gefängnisstrafen.

In seinem Buch zählt Wolfgang Leonhard Kommunisten auf, die im NKFD das Sagen hatten: Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Wilhelm Florin,Hermann Matern, Anton Ackermann, Edwin Hörnle und Martha Arendsee. Dabei waren auch antifaschistische Schriftsteller und Kulturschaffende wie Johannes R. Becher, Willi Bredel, Theodor Plivier, Gustav von Wangenheim, Friedrich Wolf und Erich Weinert, der der Vereinigung als Präsident vorstand. Bei der Gründung traten Soldaten und Offiziere der Wehrmacht mit ihren Orden und Ehrenzeichen auf, was nicht jedem gefiel, aber in seiner Wirkung auf potenzielle Überläufer berechnet war. Leonhard arbeitete in der Zeitungsredaktion des NKFD, die von Rudolf Herrnstadt, dem späteren Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neun Deutschland“ geleitet wurde, von einem Mann, der zehn Jahre später von Walter Ulbricht abgesetzt und in die Wüste geschickt, aber nicht umgebracht wurde, wie es bei Stalin üblich war.

Widerstand auf breiter Basis

Leonhard hatte unter anderem mit der Beschaffung von Materialien des sowjetischen Radioabhördienstes zu tun und stellte Bulletins über die Lage im Deutschen Reich und darüber hinaus zusammen. Er wertete überdies Zeitungsausschnitte aus der deutschen, alliierten und neutralen Presse aus und bekam, wie er schreibt, auf diese Weise ein besseres Bild von dort als das, was die Sowjetpresse mitzuteilen hatte. Nebenbei berichtet er, es habe im Herbst 1943 eine Besprechungen zwischen Vertretern der Sowjetunion und Hitlerdeutschlands über einen Waffenstillstand gegeben. Sowjetische Führer hätten gegenüber den westlichen Verbündeten ein starkes Misstrauen gehegt und seien einem Waffenstillstand oder sogar Separatfrieden mit Hitler nicht unbedingt ablehnend gegenüber gestanden. Die geheime Verbindungsaufnahme sei aber auf Hitlers Befehl abgebrochen worden.

Leitgedanke des Nationalkomitees war Hitlers Sturz und die organisierte Rückführung der deutschen Truppen hinter die Reichsgrenze, um eine günstige Basis für den Friedensschluss der Alliierten mit dem Deutschen Reich zu ermöglichen. Anfang Januar 1943 trat das Nationalkomitee nach eigenem Bekunden in die zweite Etappe ein. Sie sah die Organisation des Kampfes der Soldaten und des deutschen Volkes „auf breiteste Basis“. Es sei sinnlos zu warten, sagte Wilhelm Pieck, der spätere KPD- beziehungsweise SED-Vorsitzende und Staatspräsident der DDR, bis sich in Deutschland ein General oder Wirtschaftsführer findet, um Hitler im letzten Moment an der Vollendung seines Verbrechens zu hindern. Es sei äußerst zweifelhaft, ob einer der verantwortlichen Männer der Wehrmacht oder Wirtschaft dazu die Kraft findet. „Sie haben Hitler schon zu viel gestattet. Wir müssen daher die Kräfte, die Deutschland retten können, aus den Arbeitern, Bauern, Intellektuellen. Wir müssen einen organisierten Kampf des deutschen Volkes entfesseln. (…) Der Appell, den wir an die Frontsoldaten richten ,muss lauten: Einstellung der Kampfhandlungen, Übergehen zum Nationalkomitee.“

Demokratische Erneuerung Deutschland

Das NKFD beschränkte sich nicht nur politische Überzeugungsarbeit und Aufrufe zum Übertritt, es lockte auch deutsche Verbände durch falsch gesetzte Funksprüche in Hinterhalte. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Fronten in der Sowjetunion kam den in Gefangenschaft befindlichen deutschen Generälen in den Aufrufen des NKFD eine größere Bedeutung zu. Im „Aufruf der 50 Generäle“ vom 8. Dezember 1944 forderte es die deutsche Bevölkerung und die Wehrmacht auf, sich von Hitler loszusagen und den Krieg zu beenden. Die Aufklärungs- und Werbekampagnen an den Fronten hatten durchaus Erfolg, etwa bei Generalleutnant Vincenz Müller, der sich freiwillig in Gefangenschaft begab und In der DDR stellvertretender Vorsitzender der Blockpartei NDPD und Vizepräsident der Volkskammer war. Als Stellvertreter des Innen- bzw. Verteidigungsministers und Chef des Hauptstabes wirkte Müller führend bei der Schaffung der Kasernierten Volkspolizei und Nationalen Volksarmee, die 1956 gegründet wurde. Bis zum 22. Juli 1944 folgten ihm 17 gefangen genommene Generäle der ehemaligen Heeresgruppe Mitte und traten dem Nationalkomitee bei, was dieses in seinen Aufrufen und Flugblättern gehörig ausschlachtete.

Nach der Gründung des NKFD in der Sowjetunion bildeten sich zumeist auf kommunistische Initiative in europäischen Ländern sowie in Lateinamerika und den USA weitere überparteiliche Zusammenschlüsse deutscher Exilanten. Sie unterstützten die Ziele des NKFD und informierten die Bevölkerung der jeweiligen Länder über die Situation in Deutschland. Mit Flugblättern, Vorträgen und Publikationen riefen die Gruppen zum Sturz des NS-Regimes auf und engagierten sich für eine demokratische Erneuerung Deutschlands. Die politischen Bedingungen und Handlungsspielräume unterschieden sich von Land zu Land stark. Die im Herbst 1943 in Frankreich gegründete „Bewegung Freies Deutschland im Westen“ wurde im April 1944 Teil der französischen Résistance. Die Regierungen in Schweden und der Schweiz, die mit dem Einmarsch der Wehrmacht rechnen mussten, beriefen sich auf ihre Neutralität und untersagten Flüchtlingen jede politische Betätigung.Trotz alledem gründen deutsche Exilanten Anfang 1944 den „Freien Deutschen Kulturbund“ in Schweden. Die Bewegung „Freies Deutschland“ in der Schweiz wurde erst im März 1945 zugelassen, als der Untergang des so „Dritten Reichs“ bevor stand.

13. Juli 2023