Nacht der langen Messer
Vor 90 Jahren ließ Hitler missliebige SA-Führer, allen voran Ernst Röhm, ermorden



Das Foto aus besseren Tagen zeigt den Berliner SS-Führer Kurt Daluege, Reichsführer SS und SA-Stabschef Ernst Röhm.



Zahlreiche blutige Verbrechen gehen auf das Konto der von Röhm angeführten SA, die, von ihren berüchtigten Lokalen und Folterhöllen ausgehend, Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreitete.



SA-Leute haben die ersten Konzentrationslager – hier das KZ Oranienburg, aus dem 1936 das KZ Sachsenhausen hervor ging – bewacht. Viele Häftlinge wurden von SA- und SS-Leuten auf perfide Weise drangsaliert und geschunden, und es gab viele Tote.



Das Foto aus dem „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“, das 1933 in Paris erschien, zeigt, wie SA-Leute einem Juden ein Hakenkreuz in die Haare schneiden. Nach außen gaben sich die SA und SS als Truppe aus, der nichts über sittliche Reinheit geht. Himmler lobte seine Leute, die selbst bei Massenhinrichtungen „anständig“ bleibt.



Als 1933 überall in Deutschland missliebige Bücher und Schriften in die Scheiterhaufen flogen und Bibliotheken geplündert wurden – hier die des Vorkämpfers für die Abschaffung des Schwulen-Paragraphen 175 – waren SA-Leute ganz vorn dabei.



In einer Gedenkstätte an der Papestraße unweit des Berliner S-Bahnhofs Südkreuz wird über unbeschreibliche Verbrechen der Folterknechte an Antifaschisten und Juden berichtet.





Einer der Orte der Hinrichtungen im Sommer 1934 ohne Recht und Gesetz war die Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde. Indem Hitler an dort angetreten SS-Männern vorbei schritt, gab er ihnen für ihre Mordtaten seinen „Segen“. Das Gebäude beherbergt heute das Bundesarchiv. (Fotos/Repros: Caspar)

Die Ermordung des Stabschefs der SA, Ernst Röhm, und weiterer hoher Funktionäre der braunen Terrortruppe Ende Juni/Anfang Juli 1934 wurde von der NS-Propanganda als Akt der Staatsnotwehr und als Maßnahme zur Niederschlagung eines angeblich gegen Hitler und die NS-Führung gerichteten Putsches ausgegeben. Neben prominenten SA-Leuten wurden vor nunmehr 90 Jahren weitere Personen ermordet, die wie Kurt von Schleicher, der Vorgänger von Hitler als Reichskanzler, als Reichsfeinde eingestuft worden oder nur zufällig in die Schusslinie der SS-Schergen geraten waren. Für die SA galt keine Diskussion mit dem Gegner, sondern rücksichtslose Gewalt. In einem Befehl an die Sturmabteilung der NSDAP vom 3. Februar 1926 (!) heißt es: „Der SA-Mann ist der heilige Freiheitskämpfer. Der Pg. (Parteigenosse, H. C.) ist der kluge Aufklärer und gerissene Agitator. Die politische Propaganda sucht den Gegner aufzuklären, mit ihm zu disputieren, seinen Standort zu begreifen, auf seine Gedanken einzugehen, ihn bis zum gewissen Grade Recht zu geben. Wenn aber die SA auf dem Plan erscheint, hört das auf. Sie kennt keine Konzessionen. Sie geht aufs Ganze. Sie kennt nur das Motto: Slah dot! Du oder ich.“

Nützliche Idioten in brauner Uniform

Die von Hitler und Göring insgeheim vorbereitete „Nacht der langen Messer“, wie die Säuberungswelle im Sommer 1934 inoffiziell genannt wurde, fand durch Kommandos der SS mit Unterstützung der Gestapo und der Reichswehr statt. Im Ergebnis war die SA entmachtet, und die SS unter Reichsführer Heinrich Himmler konnte eine spürbare Aufwertung verzeichnen. SA-Chef Ernst Röhm war von einem zum anderen Tag eine Persona non grata, Fotos von ihm, Hitler und anderen Naziführern verschwanden im Giftschrank. Hitler konnte sich als „Saubermann“ präsentieren und als einer, der im „Saustall SA“ wie man hinter vorgehaltener Hand sagte, endlich aufgeräumt und die Terrortruppe zur Räson gebracht hatte.

Die Mordaktion wurde auch als Maßnahme zur „Reinigung“ der SA von Homosexuellen begründet. Deren Stabschef Ernst Röhm und andere Mordopfer hätten sich an jungen Männern vergangen und sich damit außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft gestellt, lautete eine Begründung. Dass die SA auf Straßen und in ihren Lokalen vor 1933 und noch viel mehr nach der Errichtung der Hitlerdiktatur schreckliche Verbrechen begangen hatte, spielte in der Berichterstattung über die Mordaktionen im Sommer 1934 keine Rolle. Manche Menschen mögen frohlockt haben, dass der „Führer“ die SA in ihre Schranken gewiesen hatte.

In der Tat spielten die bis dato nur als nützliche Idioten in brauner Uniform benutzten Sturmabteilungen unter ihrem neuen Anführer Viktor Lutze im so genannten Dritten Reich nur noch die zweite Geige. Es gab auch Beifall, weil Hitler die angeblich von Homosexuellen durchseuchten Sturmabteilungen „von solchen Sittenstrolchen“ befreit hat. In einem Erlass an den neuen Stabschef Lutze verbot Hitler der SA, Festgelage zu veranstalten und sich öffentlich zu betrinken, teure Autos zu fahren und zu randalieren. „Ich will Männer als SA-Führer sehen und keine widerlichen Affen“, wies er die SA-Führer an und fügte hinzu, die SA müsse als reinliche und saubere Institution erhalten und gefestigt werden. „Ich möchte insbesondere, daß jede Mutter ihren Sohn in SA, Partei und Hitlerjugend geben kann, ohne Furcht, er könne sittlich od. Moralisch verdorben werden.“ Alle SA-Führer sollten peinlichst darüber wachen, „daß Verfehlungen nach § 175 mit dem sofortigen Ausschluss der Schuldigen aus SA und Partei beantwortet werden.“ Mit dem Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch war „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern gemeint, die mit Zuchthaus geahndet wurde und nach 1933 auch die Einlieferung in die Konzentrationslager zur Folge hatte.

Innerparteiliche Kontrahenten

Obwohl es keine Putsch-Pläne gab, hat sich in der deutschen Geschichtswissenschaft der zur Legitimierung des Blutbades von der NS-Propaganda erfundene Begriff „Röhm-Putsch“ gehalten. Vergessen war im Sommer 1934, dass die SA wesentlich zur Errichtung und Festigung der Nazi-Diktatur beigetragen hatte und Hitler den SA-Chef Ernst Röhm immer wieder seiner Dankbarkeit und Freundschaft versichert hatte, solange er für den Aufbau seiner Diktatur gebraucht wurde. Der Stabschef war einer der wenigen Getreuen, der mit Hitler per „du“ verkehrte. Bis zu seiner Ermordung fühlte sich er sich als zweiter Mann im Staate, was seine innerparteilichen Kontrahenten, den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, Propagandaminister Joseph Goebbels und andere Naziführer wütend machte und Mordpläne schmieden ließ.

Röhm und seine SA sahen sich als eigentliche Träger der NS-Bewegung und als Erben der laut Versailler Vertrag nur aus 100 000 Mann bestehenden Reichswehr. Hingegen mochte die NSDAP-Führung der SA lediglich den Status einer Ordnungstruppe der Partei zugestehen. Ganz und gar unpassend war, dass sich die SA-Führung auf den im NSDAP-Programm von 1920 geforderten sozialistischen Umbau der Gesellschaft berief und behauptete, die nationalsozialistische Revolution habe ihre Ziele noch nicht erreicht. Da sich Hitler solche Ratschläge verbat, ließ er insgeheim von der Gestapo Material gegen Röhm und seine Spießgesellen sammeln, und auch die Reichswehr war alarmiert, weil die SA-Führung ihr nur noch die Aufgabe einer Ausbildungstruppe zugestehen wollte.

Exekutionen nachträglich gerechtfertigt

Da Hitler das Image eines proletarischen Massenredners und Straßenkämpfers ablegen wollte und mit Blick auf seine Kriegspläne die Reichswehr beziehungsweise ab 1935 Wehrmacht brauchte, wies er Röhms Behauptung zurück, die Revolution sei noch nicht beendet. Die SS streute derweil Gerüchte über Röhms homosexuelle Neigungen, die damals ein schwerer Straftatbestand darstellten, und bereitete auch damit den Schlag gegen die SA-Führung vor. Am 28. Juni waren die technischen Vorbereitungen abgeschlossen. An diesem Tag wurde Röhm aus dem Verband der Deutschen Offiziere ausgestoßen, ohne dass er selbst oder die Öffentlichkeit etwas davon erfuhren.

Röhm wurde auf seinen Befehl von der SS am 1. Juli 1934 mit weiteren SA-Führern von Bad Wiessee nach München ins Gefängnis Stadelheim gebracht und erschossen. Mit ihm wurden weitere auf einer „Reichsliste“ vermerkte Personen exekutiert, die Hitler hätten gefährlich werden können. Unter ihnen waren der ehemalige Reichskanzler General Kurt von Schleicher, der ehemalige NSDAP-Organisationsleiter Gregor Strasser, der ehemalige bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr, General Ferdinand von Bredow und Erich Klausener, Vorsitzender der Katholischen Aktion im Bistum Berlin sowie Herbert von Bose und Edgar Julius Jung, zwei enge Mitarbeiter des Vizekanzlers Franz von Papen.

Die Morde wurden nachträglich durch das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934 mit diesem einzigen Satz gerechtfertigt: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens“ . Hitler schwang sich in einer Rede zum obersten Gerichtsherren auf, der über dem Gesetz steht, und saß nun fest im Sattel. Hitler gab an, durch „schwerste Verfehlungen“ Röhms gezwungen worden zu sein, ihn abzusetzen. Die „bekannte unglückliche Veranlagung“ Röhms sei Ursache für „schwerste Belastungen“ gewesen.

„Röhm, du bist verhaftet“

Röhms Adjutant erhielt telefonisch den Befehl, dafür zu sorgen, dass alle SA-Führer am späten Vormittag des 30. Juni bei einer Besprechung mit Hitler im Urlaubsort des Stabschefs Bad Wiessee anwesend sein sollen. Am 29. Juni erschien im parteiamtlichen „Völkischen Beobachter“ ein Aufsatz des Reichswehrministers General Werner von Blomberg, in dem er versicherte, die Reichswehr stehe hinter Hitler, der sich des Rückhalts des Militärs sicher sein konnte. In der Nacht zum 30. Juni 1934 randalierten in verschiedenen Teilen Deutschlands SA-Männer, denen Gerüchte über ein Vorgehen gegen die SA zu Ohren gekommen waren. In München zogen, aufgerufen durch anonyme Handzettel, in dieser Nacht etwa 3000 SA-Männer lautstark durch die Stadt. Die Verfasser der Handzettel blieben unbekannt, möglicherweise handelte es sich um Provokation der SS-Führung.

Am 30. Juni 1934 gegen zwei Uhr morgens startete Hitlers Flugzeug vom Flugplatz Hangelar, gegen vier Uhr traf er in Begleitung von Goebbels und Lutze in München ein und fuhr weiter mit Goebbels und Lutze sowie ausgesuchten SS-Männern nach Bad Wiessee. Im Hotel Hanselbauer schrie Hitler den verschlafenen SA-Führer nach einem Augenzeugenbericht so an: „Röhm, du bist verhaftet!“ Lediglich Edmund Heines, der mit einem anderen Mann im Bett überrascht wurde, leistete Widerstand.

Fast die ganze SA-Führung ermordet

Auf dem Münchner Hauptbahnhof wurden die mit den Nachtschnellzügen aus allen Teilen Deutschlands zur anberaumten Konferenz angereisten SA-Führer von Beamten der bayerischen Politischen Polizei festgenommen. Überdies wurden überall in Deutschland weitere SA-Leute verhaftet und viele von ihnen ohne Prozess ermordet. In Berlin wurden in der „Reichsliste“ aufgeführte höhere SA-Führer verhaftet und in der Lichterfelder Kadettenanstalt erschossen. Dort starb auch der Berliner SA-Gruppenführer Karl Ernst, der in Bremen unmittelbar vor Antritt seiner Hochzeitsreise aufgegriffen wurde und bis zuletzt an einen Scherz glaubte. Die Anzahl der Mordopfer wurde geheim gehalten. Nach Lutzes Angaben wurden 82 SA-Leute und damit fast die gesamte SA-Führung umgebracht. 1957 konnten 191 Todesopfer identifiziert werden.

Immer wieder wurde in denuziatorischer Weise die Homosexualität einiger SA-Männer und ihr Verhältnis zu „Lustknaben“ als Grund angegeben, weshalb Hitler durchgreifen musste. Diese Deutung sicherte ihm bei manch einem kritisch eingestellten „Volksgenossen“ durchaus Sympathie, zumal Hetze gegen Schwule und Andersartige wohlfeil war und von den Gebrechen des Regimes ablenkte. Der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei richtete Heinrich Himmler lebte wie kaum ein anderer seine Homophobie aus und fand Rückendeckung bei Hitler. ein spezielles Amt zur Verfolgung von „175ern“ ein, das lange Listen von Verdächtigen anlegte. Auf ihrer Grundlage konnte die Gestapo jederzeit zuschlagen, Razzien veranstalten, Verhaftungen vornehmen, Anklage erheben und Einweisungen in die KZ vornehmen. Wurden Schwule bei der SA bis zum „Röhm-Putsch“ gerade noch geduldet, so war danach alles, was mit diesem Thema zu tun hatte, ausgesprochen lebensgefährlich. Daher war es auch ein besonders perfides Mittel, politisch missliebige Personen der Homosexualität zu beschuldigen. So haben die NS-Machthaber auch Geistliche verdächtigt, sie würden sich an Knaben vergehen. Solche Verfehlungen, die es sicher gegeben hat und auch heute, wie wir immer wieder leidvoll erfahren, nicht aus der Welt sind, spielten schon während des so genannten Kulturkampfes gegen die katholische Kirche in der Kaiserzeit eine Rolle.

Kampf gegen Homosexuelle

Die Nazis waren überzeugt, dass die Gleichgeschlechtlichkeit zum Geburtenrückgang führt. Dieser sollte unter allen Umständen verhindert werden, weshalb sie massiv auch gegen Abtreibungen vorgingen und im Rahmen der Aktion „Lebensborn“ entlegene Anstalten zum Gebären und zur Aufzucht so genannten rassenreinen Nachwuchs installierten. Alle Informationen über Sittenstrolche, Triebverbrecher, Knabenverführer und Lohnabtreiber, also Personen, die gegen Geld Abtreibungen vornehmen, und weitere „Feinde der positiven Bevölkerungsentwicklung“, so die damalige Diktion, liefen in der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung mit Sitz am Werderschen Markt in Berlin-Mitte zusammen. Selbsternannte Experten versuchten den Nachweis zu führen, dass Homosexuelle Volksschädlinge und Verderber der Jugend sind, weil sie zum Kinderkriegen nicht taugen, die Wehrfähigkeit des deutschen Volkes untergraben und, weil sie erpressbar sind, auch für Agentendienste und Landesverrat anfällig sind.

Das hat uns hart gemacht

Reichsführer SS Heinrich Himmler, nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 nach Hitler der stärkste Mann im Staate, hatte allen Grund, seine Leute auf den Vernichtungskrieg im Osten einzuschwören und ihnen moralische Bedenken zu nehmen. Von seiner dreistündigen Rede am 4. Oktober 1943 existiert in den SS-Akten eine maschinenschriftliche Endfassung von 115 Seiten (ein Blatt ging verloren), die als Dokument 1919-PS beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorlag. Am 23. Verhandlungstag wurde eine Passage daraus zitiert, die jedoch nicht den ? Holocaust betraf. Dabei setzte Himmler die Erfahrungen seiner Zuhörer mit Massenerschießungen, Ghettoauflösungen und Vernichtungslagern beziehungsweise ihre Kenntnis darüber voraus. Die Rede rechtfertigte bereits verübte Verbrechen bereitete die Zuhörer auf weitere vor. Zur „Ausrottung des jüdischen Volkes“ sagte Himmler, es gehöre zu den Dingen, die man leicht ausspricht. „‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte“.

13. März 2024