Machtmissbrauch? Aber nicht bei uns!
In der DDR war Vorsicht bei der Verwendung unerwünschter Begriffe ratsam





Stalins Verbrechen und der Machtmissbrauch seiner Clique wurden in der DDR lange nicht zur Kenntnis genommen und als „Personenkult“ klein geredet, nachdem Nikita Chruschtschow 1956 eine Art Abrechnung mit dem wie ein Gott verehrten Stalin und den Stalinismus startete, zu dessen Protagonisten und Nutznießern er als Chefpolitiker in der Ukrainischen Sowjetrepublik war lange Zeit war. Die Fotos zeigen einen Aufmarsch in Ostberlin mit Transparenten von Lenin und Stalin und wie in Ungarn Stalinbilder bei Volksaufstand von 1956 in den Straßendreck flogen.



Nicht Stalin, sondern die Partei und Regierung, die heldenhaft kämpfende Armee, ihre talentierten Feldherren und tapferen Soldaten und das ganze sowjetische Volk seien es gewesen, die den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gewährleisteten, stellte Nikita Chruschtschow 1956 klar. Die DDR hielt eisern am alten Glauben fest.



Der ukrainische Parteichef Nikita Chruschtschow war einer der engsten Gefolgsleute von Josef Stalin und nach dessen Tod 1953 sein schärfster Kritiker.



Im Zuge der Entstalinisierung wurden auf Befehl aus dem Kreml überall Stalinbilder und Denkmäler des Diktators entfernt. In der DDR ließ man sich damit viel Zeit.



Das Fotos zeigt, wie Ulbricht im Schloss Niederschönhausen Malern und Bildhauern als Modell sitzt. Ein Schmeichelfilm zu Ulbrichts 60. Geburtstag am 30. Juni 1953 wurde zwei Wochen nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht aufgeführt.





Für Walter Ulbricht – hier bei einer Sitzung mit Ministerpräsident Otto Grotewohl und Präsident Wilhelm Pieck - und seinen Nachfolger ab 1971 Erich Honecker kam eine Fehlerdiskussion nicht infrage, sie stritten ab, dass sie Personenkult um sich herum duldeten und förderten und ihre Macht missbrauchten. (Repros: Caspar)

In der DDR hab es etliche Unwörter, deren Gebrauch man tunlichst vermied, um nicht ins Visier der Staatssicherheit und der Justiz zu geraten. Offiziell wurde nie an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erinnert, war aber im Gedächtnis immer präsent. Die von sowjetischen Panzern niedergewalzte Erhebung wurde im so genannten Wendejahr 1989 bei Beratungen mit Stasi-Minister Erich Mielke und anderen Funktionären erwähnt, als die Massenproteste quer durch das Land an Stärke und Dringlichkeit zunahmen und das von der SED gezimmerte Kartenhaus zusammen zu fallen drohte. Dass die Leute scharenweise über DDR-Botschaften in Warschau, Budapest und Prag sowie am 19. August 1989 und danach hunderte Bewohner unbehelligt die Grenze nach Österreich passierten, wurde auf Machenschaften westlicher Geheimdienste und Medien zurück geführt. Das gilt auch für die Massenproteste, die von Plauen und Leipzig aus das ganze Land ergriffen und Mielke besorgt fragen ließen: „Kommt der 17. Juni?“ Sorgsam achtete die Propaganda darauf, dass nirgendwo der Begriff „Mauer“ im Zusammenhang mit deren Errichtung am 13. August 1961 gebraucht wurde und auch niemals von Mauertoten und Schießbefehl gesprochen wurde. Weitere Unwörter waren Archipel Gulag und 1984 nach Romanen von Alexander Solschenizyn und George Orwell, die in der DDR verboten waren und deren Besitz mit Gefängnis bestraft wurde.

Eisern wurde am Namen „Neues Deutschland“ festgehalten, mit dem das 1946 ins Leben gerufene Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands den Anspruch erhob, für das fortschrittliche, antifaschistische Deutschland zu sprechen und ihm die Richtung nach dem Motto „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ zu weisen. Und auch der Titel der SED-Zeitschrift „Einheit“ wurde nie infrage gestellt. Bei der inoffiziell auch „Ruinenwalzer“ genannten DDR-Hymne mit der Anfangszeile „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ sah es anders aus. Sie wurde zum erstenmal in Berlin am 6. November 1949 anlässlich einer Festveranstaltung zum 32. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gesungen und soll vom Publikum ergriffen und begeistert aufgenommen worden sein. Der vom SED-Politbüro genehmigte Text des Dichters Johannes R. Becher kennzeichnete treffend die Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber schon der nächste Satz „Lasst und dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland“ war wegen der Abgrenzungspolitik in der Honecker-Ära zwischen 1971 und 1989 politisch inopportun, weshalb die DDR-Hymne nicht mehr gesungen, sondern nur noch vom Orchester gespielt werden durfte.

Honeckers Zwei-Staaten-Theorie

Ein anderes Tabuwort war die Deutschen Einheit , an der bis in die 1960er Jahre festgehalten wurde, und zwar an einer Einheit zwischen Oder und Rhein unter kommunistischen Vorzeichen. Erst die von Erich Honecker, dem Nachfolger von Walter Ulbricht an der Spitze von Partei und Staat, ausgerufene Zwei-Staaten-Theorie machte dieser Vision ein Ende. So wurde das Wort „deutsch“ aus Amtsbezeichnungen und politischen Deklarationen gestrichen. So hieß die Deutsche Akademie der Wissenschaften ab 1971 Akademie der Wissenschaften der DDR, der Deutsche Nationalpreis und der Deutsche Fernsehfunk hießen Nationalpreis der DDR beziehungsweise Fernsehen der DDR, und der Deutsche Kulturbund wurde in Kulturbund der DDR umbenannt. Hingegen behielt die Deutsche Reichsbahn ihren traditionellen Namen. Sie ging mit aufgrund des Einigungsvertrags von 1990 als Sondervermögen in Bundeseigentum über und bestand bis Ende 1993.

Eines der Tabuwörter war der Machtmissbrauch, der höchstens hinter vorgehaltener Hand erwähnt wurde. Hätte man sich des Problems des Missbrauchs von Staats- und Parteiämtern durch die „führenden Genossen“ von Ulbricht und Honecker abwärts und der Beherrschung der Gesellschaft durch die Staatspartei und ihren Geheimdienst öffentlich und ehrlich gestellt, dann hätte sich System selbst abschaffen müssen. Doch dazu waren die Politbürokraten natürlich nicht bereit. Intern gab es zwar da und dort zaghafte Versuche, den als Personenkult verharmlosend umschriebenen Machtmissbrauch zu benennen. Wer das forderte, wurde als Revisionist und Agent des westdeutschen Imperialismus verteufelt und bestraft. Nach der so genannten Wende 1989/90 war es für ehemalige Funktionäre wohlfeil, die Zustände in den obersten Entscheidungsgremien als gegen das DDR-Volk gerichtet und damit parteifeindlich zu brandmarken und eigenes Mitmachen damit zu begründen, dass nichts gegen den Willen der Parteiführer auszurichten war. Die Literatur aus der Zeit nach dem Ende der SED und DDR bietet eine Fülle solcher verlogener Rechtfertigungsversuche.

Stalins Stern glänzt am hellsten

Als der sowjetische Diktator am 5. März 1953 nahe Moskau mit erst 73 Jahren starb, haben viele seiner Untertanen ehrlichen Herzens getrauert, und auch in der DDR und den anderen unter sowjetischer Herrschaft stehenden Ländern hinter dem Eisernen Vorhang waren die Menschen, freilich nicht alle, bestürzt. Johannes R. Becher, der Dichter der DDR-Hymne, verstieg sich zu einer „Danksagung“, in der es heißt: „Neigt euch vor ihm in ewigem Gedenken! / O sag auch du, mein Deutschland, Stalin Dank. / Er kam, ein neues Leben dir zu schenken, / Als schon dein Land in blutigem Schutt versank. / [...] Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken. / In jeder Stadt steht Stalins Monument. / Dort wird er sein, wo sich die Reben ranken, / Und dort in Kiel erkennt ihn ein Student. / Dort wird er sein, wo sich von ihm die Fluten / Des Rheins erzählen und der Kölner Dom. / Dort wird er sein in allem Schönen, Guten, / Auf jedem Berg, an jedem deutschen Strom. / Allüberall, wo wir zu denken lernen / Und wo man einen Lehrsatz streng beweist. / Vergleichen wir die Genien mit den Sternen, / So glänzt als hellster der, der Stalin heißt...“

Wenn man heute solche Elogen liest muss man sehr an sich halten, um nicht zu lachen. Dabei waren sie ernst, ja todernst gemeint, und wer sich über die Wortschöpfungen der damaligen Staatspoeten und seinesgleichen lustig machte, bekam es mit der Sowjetmacht und ihren ostdeutschen Ablegern zu tun. Als nach den Enthüllungen der Stalinschen Verbrechen durch den neuen Parteichef Nikita Chruschtschow im Februar 1956 nach und nach auch in der DDR durchsickerte, wer der wie ein Gott verehrte Stalin wirklich war und dass er Millionen Menschenleben ausgelöscht und ein Netz von Arbeits- und Konzentrationslagern aufgebaut hat, dürfte sich Becher ungern seines Machwerks erinnert haben. Auch an diese kitschige „Danksagung“ zu erinnern war nicht erwünscht.

Der neue Machthaber in der Sowjetunion, der selber Teil des Stalinschen Herrschaftssystems war, beschrieb in einer nicht lange geheim gebliebenen Geheimrede 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU, wie auf Stalins Befehl von unschuldigen Menschen durch Folter und andere Methoden „Geständnisse“ erpresst wurden. „Anstatt seine politische Korrektheit zu beweisen und die Massen zu mobilisieren, schlug er oft den Weg der Unterdrückung und physischer Vernichtung ein, und zwar nicht nur im Kampf gegen tatsächliche Feinde, sonders auch gegen Personen, die keine Verbrechen gegen die Partei und die Sowjetregierung begangen hatten“, stellte Chruschtschow fest und beschrieb, mit welcher Leichtfertigkeit der Diktator alle Warnungen, selbst solche vom britischen Premierminister Churchill vor einem deutschen Überfall in den Wind geschlagen hat. Die Leugnung offenkundiger Fakten habe dazu geführt, „dass der Feind schon in den ersten Stunden und Tagen in unseren Grenzgebieten eine große Zahl an Flugzeugen, Geschützen und anderem Kriegsgerät zerstörte, eine bedeutende Anzahl unserer Militärkader vernichtete, die Truppenführung desorganisierte; somit waren wir nicht imstande, ihm den Weg in die Tiefe des Landes zu versperren. Sehr schwerwiegende Folgen, insbesondere für die Anfangsperiode des Krieges, hatte der Umstand, dass infolge des Misstrauens Stalins im Verlauf der Jahre 1937 bis 1941 auf der Basis verleumderischer Anklagen viele militärische Kommandeure und Politarbeiter liquidiert worden waren. Im Lauf dieser Jahre wurden mehrere Schichten von Führungskadern Repressalien ausgesetzt, angefangen bei der Kompanie- und Bataillonsebene bis hin zu allen höheren Militärzentren. Dabei wurde der Führungskader, der eine bestimmte Erfahrung bei der Kriegführung in Spanien und im Fernen Osten erworben hatte, nahezu völlig liquidiert.“

Bloß keine Fehlerdiskussion

Die nach Moskau beorderten ostdeutschen Genossen gaben die Parole „Keine Fehlerdiskussion“ aus. Ulbricht stellte im „Neuen Deutschland“ am 4. März 1956 lediglich fest, Stalin sei fortan kein „Klassiker" mehr. „Als sich Stalin über die Partei stellte und den Personenkult pflegte, erwuchsen der KPdSU und dem Sowjetstaat daraus bedeutende Schäden. (…) Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen." Stalins Terror und seine Millionen Opfer waren Ulbricht kein Wort wert, ebenso wenig Stalins Pakt mit Hitler 1939 und wie es dem Diktator gelang, sich über alles zu erheben und warum ihm niemand in den Arm fiel. Natürlich hat sich Ulbricht mit keinem von dem bis dahin in der DDR zelebrierten Stalin-Kult distanziert und dies als Fehler bezeichnet. Statt dessen machte er sich über das Einbläuen von Stalin-Sprüchen bei Schulungen lustig.

Auf der III. Parteikonferenz im März 1956 sagte er: „Die jungen Genossen sind zum großen Teil so geschult, dass sie bestimmte Dogmen gut auswendig gelernt haben. Sie wissen über die Biographie des Genossen Stalin mehr und Genaueres als das ganze Politbüro. Sie kennen die Zahlen und alles auswendig! (Heiterkeit!) Aber wenn man sie jetzt fragt: Wie verhalten wir uns in den Fragen der sozialistischen Ökonomik, da liegen sie glatt auf dem Kreuz. (Erneute Heiterkeit!) Da geht es nicht weiter, da hört es auf. Neulich hat ein Genosse die Frage gestellt: Was ist eine Idee? Er hat gesagt: Eine Idee ist eine Verbindung von zwei Zitaten. (Große Heiterkeit!) Das ist zwar als Witz erzählt worden, aber doch ist darin eine tiefe Wahrheit enthalten.“

Jahrzehntelang hatte die kommunistische Propaganda das Bild vom menschenfreundlichen, wirkmächtigen „Väterchen Stalin“, vom genialen Militärstrategen und allwissenden Gelehrten, der sich sogar als Sprachwissenschaftler betätigte. Ihm allein und ausschließlich wurde der Sieg über Hitlerdeutschland zugeschrieben. Wer nicht persönlich von seinen Verbrechen betroffen war, sondern vom System Stalin profitiert hatte, mögen die Erzählungen geglaubt haben. Die vielen anderen aber hofften vergeblich auf ein neues, besseres Leben, aus ein Leben im Zeichen des Tauwetters. Stalins Tod unterbrach in Moskau die Vorbereitungen für neue Schauprozesse ähnlich den Verfahren in den 1930-er Jahren. Gegen Ende seines Lebens mutmaßte der Kreml-Herrscher, dass sich Ärzte gegen ihn verschworen haben, und außerdem witterte er überall amerikanische Spione. Die Verfahren wurden nach Stalins Tod eingestellt, später hat man im Zeichen der so genannten Entstalinisierung unzählige Menschen rehabilitiert. Den vielen erschossenen oder in den Arbeitslagern und Zuchthäusern ums Leben gekommenen Opfern hat das nichts mehr genutzt. Unter ihnen waren viele deutsche Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren.

Untaugliche Rechtfertigungsversuche

Erich Honecker, der am 18. Oktober 1989 in Rente geschickt wurde und ohnmächtig zusehen musste, dass er zum allgemeinen Sündenbock erklärt und seine, wie er meinte, politische Lebensleistung kaputt gemacht wurde, schrieb am 15. November 1989 dem „werten Genossen Krenz“ über den jetzt aufgeworfenen Vorwurf des Amtsmissbrauchs, zu dem er, Honecker, nicht schweigen könne und wolle. „Ich werde immer – wo dies auch sei – diesen Vorwurf bei allen Fehlern, die ich begangen habe, zurückweisen. In keiner Phase meines Lebens habe ich in meiner Tätigkeit etwas mit Amtsmissbrauchs zu tun (gehabt). Dies sage ich in voller Verantwortung für begangene Fehlentscheidungen sowohl im Interesse unserer Partei und des Volkes der DDR.“ Der Rechtfertigungsbrief wurde nicht veröffentlicht, er hätte vermutlich weiteres Öl ins Feuer gegossen. Honecker weigerte sich, auf seine nicht näher bezeichneten Fehlentscheidungen einzugehen, und begründete dies, sonst immer schnell mit Sprüchen und Urteilen bei der Hand, mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand.

Der ehemalige Partei- und Staatschef hat sich von seinem tiefen Fall nicht mehr erholt. Während sein Regime alle Gegner erbarmungslos verfolgte, wurden ihm und seiner Frau, der Volksbildungsministerin Margot Honecker, in einem Gerichtsverfahren die Vorzüge des demokratischen Rechtsstaats zuteil, ja er genoss für ein paar Wochen sogar christliche Nächstenliebe, als er und seine Frau nördlich von Berlin in einem Pfarrhaus Asyl erhielten. Zu einem Prozess gegen ihn kam es nicht, er starb 1994 im chilenischen Exil. Seine Frau Margot war bis zu ihrem Tod 2016 fest davon überzeugt, dass nicht Selbstverliebtheit und eigenes Versagen, sondern Verräter in den eigenen Reihen Schuld am Untergang des ersten und einzigen sozialistischen Staates auf deutschem Boden waren.

25. Januar 2024