Mord und Mode, Krone und Krawall
Zeitungen der Kaiserzeit bedienten jeden, auch den schlechtesten Geschmack

Heinrich Zille hat Zeitungsverkäufer auf Berliner Straßen genau beobachtet. Hier sagt der auf der Friedrichstraße auf Kundschaft wartende Mann zu seiner Kollegin: „Müller'n, heite wird’s en Jeschäft!Acht Prozesse, drei Morde, zwee Bankjehs, zwee Sitte, Spione und Attentate, zwee Flieger gestürzt, een Luftschiff verloofen.“ Die Kinder erfahren von dem anderen Zeitungsmann, was „Sache“ ist.

Unter die Guillotine mussten in der Kaiserzeit unbotmäßige Journalisten war nicht, aber die Staatsmacht hat ihnen das Leben und Arbeiten schwer gemacht wo es nur ging. Nach der Abdankung Wilhelms II. durfte man über ihn ohne Scheuklappen berichten.

Regimekritische Zeitungen und satirische Zeitschriften wurde offiziell verdammt, konnten sich aber gegen vielfältige Hindernisse behaupten. Unter den Lesern waren auch solche, die niemals zugegeben hätten, dass sie solche „Schund- und Schmutzliteratur“ anfassen, wie politische Gegner sagten. Den Kaiser direkt anzugehen, traute man sich nicht. Ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung wäre die Folge gewesen. Statt seiner nahmen sich Witz- und andere Blätter seine aufgeblasenen Helfer zur Brust. Die Karikatur im Simplicissimus schildert, wie der Teufel der Satire Gehirnwäsche betreibt.

Die „BZ. am Mittag“ wurde in aller Öffentlichkeit für fünf Pfennige angepriesen und fand reißenden Absatz.

Der Fall des Hauptmanns von Köpenick wurde 1906 in der Presse nach allen Seiten beschrieben. Den ihm spaßeshalber zugedachten Friedensnobelpreis bekam er nicht, aber er hatte die Lacher ganz auf seiner Seite.
Repros: Caspar
Berlin war in der Kaiserzeit „die“ Zeitungsstadt im Deutschen Reich. Drei große Konzerne – Ullstein, Mosse und Scherl - buhlten um die Gunst der Leser. Die Verlage, Redaktionen und Druckereien bedeutender Zeitungen, Zeitschriften und was sich sonstwas für wenige Pfennige und Groschen verkaufen ließ, waren an der Berliner Kochstraße und umliegenden Straßen im südlichen Teil der Friedrichstadt konzentriert. An der Charlottenstraße/Ecke Zimmerstraße etablierte sich das Wolffsche Telegraphen-Büro, in seiner Nähe richtete sich der Verleger Leopold Ullstein ein. 1881 bezog er das Haus Kochstraße 23, wo das Neue Berliner Tageblatt sowie die Berliner Zeitung, Berliner Abendpost, Berliner Morgenpost, B. Z. am Mittag und weitere renommierte Blätter erschienen. Auch die seinerzeit sehr mächtigen Zeitungsverleger Rudolf Mosse und August Scherl fanden an der Gegend nicht weit vom kaiserlichen Schloss und den Reichsministerien Gefallen.
Politisch und intellektuell war das Spektrum dessen, was diese Tages-, Wochen- und Monatsblätter zu bieten hatte, riesengroß. Es reichte von rechtsaußen und erzkonservativ bis weit nach links . Geboten wurde eine bunte Mischung zwischen Mord und Mode, Kunst, Wissenschaft und Krawall, Krone und Konsum. Beliebte Themen waren auch Hofnachrichten, Klatsch und Tratsch aus der „feinen“ Gesellschaft, ferner Wirtschaftsmeldungen, Theateraufführungen, Diebstähle und Betrug, Unfälle und Schiffsunglücke, rätselhafte Naturerscheinungen und Vulkanausbrüche in fernen Ländern, Erfindungen und nicht zuletzt Sport, kurzum alles das, womit Kasse gemacht und die Neugier des Publikums befriedigt werden konnte. Ferner gab es Blätter, die sich speziell an Frauen wandten und solche, die parteipolitische Ziele vertraten. Die Zensurbehörden lasen alles ganz genau und waren mit Strafen und Verboten schnell zur Stelle. Zwangsmaßnahmen gegen unbotmäßige Blätter wie das in München herausgegebene Satireblatt „Simplicissimus“ wirkten sich werbewirksam für diese aus. Beim Militär und in der Beamtenschaft konnte es gefährlich werden, bei solcher Lektüre erwischt zu werden.
Zensoren verboten nicht genehme Blätter
Wenn es den Zensoren zu „bunt“ wurde, haben sie unerbittlich nicht genehme Blätter wegen Volksverhetzung und Majestätsbeleidigung verboten. Deren Autoren, Redakteure und Verleger standen mit einem Fuß im Gefängnis und mussten auf ihre Wortwahl Acht geben. Da Kaiser Wilhelm II. mit unbedachten Worten das In- und Ausland zu provozieren pflegte, gab die Reichsregierung, abgemilderte Versionen seiner Reden in Umlauf. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass hetzerische Zitate bekannt wurden. Berühmt und berüchtigt wurde der auch als „Wilhelm der Plötzliche“ verulkte Monarch unter anderem durch seine am 27. Juli 1900 in Bremerhaven gehaltene Hunnenrede, deren Kernsätze so lauten: „Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“
Neben seriösen Blättern, die sich um Objektivität und Überparteilichkeit bemühten, gab es auch solche von minderer Qualität, aber weiter Verbreitung. Kaisertreue Zeitungen verfolgten einen nationalistischen Kurs, der dem Deutschen Reich einen „Platz an der Sonne“ verschaffen sollte, wie Wilhelm II. zu sagen pflegte. Auf der anderen Seite sprachen die im Einklang mit der Reichsregierung stehenden Blätter der Mehrheit der Bevölkerung, und das waren schlecht bezahlte Arbeiter und Angestellte und die Tagelöhner auf dem Lande, jede Mitwirkung an der Gestaltung der Politik ab und lobten den vom Kaiser und seiner Klientel ausgeübten Autoritarismus, wie wir heute sagen würden.
Für damalige Zeit stattliche Auflagen
Wichtig war für Verlage und Verleger, möglichst viele Abonnenten zu gewinnen. Doch spielte auch der durch sensationelle Schlagzeilen angeheizte Straßenhandel und der Verkauf am Kiosk eine große Rolle. Die „Berliner Morgenpost“ aus dem Ullstein-Verlag konnte sich über 400 000 Abonnenten freuen, darunter 300 000 in der Reichshauptstadt. 150 000 Exemplare wurden von der „BZ am Mittag“ und eine Million von der „Berliner Illustrirten Zeitung“ (stets mit einem „i“ geschrieben!) verkauft. Ähnlich für die damaligen Verhältnisse stattliche Auflagen erreichten die „Berliner Allgemeine Zeitung“, die „Berliner Abendpost“ und die traditionsreiche „Vossische Zeitung“. Fortsetzungsromane und immer neue Sensationsmeldungen banden viele Leser an ihre Tages- und Wochenzeitungen, doch vieles war minderwertige Ware, die schon am nächsten nur noch zum Einwickeln von Fischen geeignet war. Über die im Verlag von August Scherl erscheinende Zeitung „Die Woche“ heißt es in einer zeitgenössischen Kritik, es brauchte wirklich kein Milligramm eigenen Geistes mehr, „um die Ware dieser ,Woche’ zu kauen und zu verschlucken, vom Verdauen konnte man ja nicht reden, denn zu verdauen war da nichts. Brauchte auch nicht zu sein, denn der angenehme Reiz im Munde genügte ja. War es dem Leser doch so, als erführe man Wissenswertes von allem Möglichen, was geschah, während man in Wahrheit unter allem Möglichen nur das Allergleichgültigste erfuhr.“
Für das lesehungrige Publikum standen auflagenstarke Tageszeitungen zu Gebote. Ullsteins „Berliner Morgenpost“ erreichte fast 400 000 Abonnenten, die „Berliner Zeitung am Mittag“ kam mit 150 000 Exemplare heraus, von der „Berliner Illustrirten Zeitung“ wurden fast eine unters Volk gebracht, um nicht zu sagen geschleudert. Die „Berliner Allgemeine Zeitung“ konnte sich über 200 000 Abonnenten freuen. Leopold Ullstein kaufte, wie er sagte, die sehr alte Tante Voss, mit der er die 1704 als Berlinische Ordinaire Zeitung. gegründete und nach dem Buchhändler Christian Friedrich Voß .benannte Vossische Zeitung meinte.Rudolf Ullstein, einer der fünf Söhne des Firmengründers, nannte den Kauf wichtig als Ergänzung zur „Berliner Morgenpost“, „Berliner Allgemeinen Zeitung“ und anderen Wochenblättern. „Wir wurden uns klar darüber, dass es gut sein würde, wenn wir noch eine hochstehende literarische Zeitung hätten, die in der Politik eine erste Nummer sein würde, ebenso in der Wirtschaft. Und was die ‚Vossische Zeitung‘ im besonderen auszeichnete, in der Theaterkritik, in der Buchkritik, in Kunst und Literatur.“ Prominente Autoren waren unter anderem Willibald Alexis Theodor Fontane, Gotthold Ephraim Lessing, Ludwig Rellstab und Erich Maria Remarque, dessen Roman „Im Westen nichts Neues“ in dem Blatt in Fortsetzungen publiziert wurde.
Verpasste Weltsensation
Nicht schnell genug auf eine Weltsensation zu reagieren und sie selbst unter allerhöchstem Zeitdruck nicht angemessen in der Zeitung zu platzieren, konnte Journalisten die Stellung kosten. So berichtet Heinz Ullstein, ein Enkel von Leopold Ullstein, in seinem Buch „Spielplatz meines Lebens“, dass die Nachricht vom Untergang des angeblich unsinkbaren Luxusschiffes „Titanic“ in der Nacht vom 14. zum 15. April 1912 falsch bewertet wurde. Von den über 2220 an Bord befindlichen Menschen waren 1514 Personen durch Verkettung unglücklicher Umstände, Verkennung der im Eismeer lauernden, unzureichender Rettungstechnik und ganz allgemein der Sucht, einen Rekord zu brechen, ums Leben gekommen. Viele Passagiere gehörten zur damaligen High Society, es kamen aber auch einfach zahlende Menschen ums Leben. Die der Zeitung per Telegramm übermittelte Nachricht wurde nur auf der letzten Seite der Zeitung „BZ. am Mittag“ platziert und verpuffte so. Hätte die Redaktion das Unglück besser bewertet, dann wäre das Blatt ganz groß herausgekommen. Wörtlich schreibt Heinz Ullstein: „Wie die meisten Menschen wusste natürlich auch er (der Redakteur) nicht, dass dieser Augenblick über seine Karriere, ja im Grunde über sein weiteres Leben entschied. Dass er sich selbst durch eine Schwäche eine Sekunde geistiger Abwesenheit sein eigenes Todesurteil sprach. Der Mann hat im Leben nie wieder etwas erreichen können.“
Die „BZ. am Mittag“ wurde vor allem auf der Straße, an Hauptverkehrsplätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Cafés und Restaurants auf marktschreierische Weise verkauft. „Mord und Gewalt, Krieg und Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferderennen, Entdeckungen und Erfindungen, Expeditionen, Liebesverhältnisse bei Prominenten, Unfälle, Theater, Spekulationsgeschäfte und Naturerscheinungen waren die wichtigsten Themen. Wenn da der „Titanic“ im ersten Moment so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, war das für das Renommee des „Revolverblattes“, wie man auch sagte, alles andere als zuträglich.
Der Presse zum Fraß vorgeworfen
Über die bei Scherl erscheinende Zeitung „Die Woche“ heißt es in einer zeitgenössischen Kritik, es brauchte wirklich kein Milligramm eigenen Geistes mehr, „um die Ware dieser ,Woche’ zu kauen und zu verschlucken, vom Verdauen konnte man ja nicht reden, denn zu verdauen war da nichts. Brauchte auch nicht zu sein, denn der angenehme Reiz im Munde genügte ja. War es dem Leser doch so, als erführe man Wissenswertes von allem Möglichen, was geschah, während man in Wahrheit unter allem Möglichen nur das Allergleichgültigste erfuhr.“ Der niederländische Dramatiker Herman Hejermans, der als Heinz Sperber für die sozialdemokratische Presse schrieb, blickte 1910 in die Zukunft und schaute sich von der Warte des Jahres 1960, was so alles 1910 gedruckt wurde und fand, dass über die Eröffnung eines neuen Luxuslokals oder das Essen und Trinken bei reichen Leuten ausführlicher berichtet wurde als über ein Grubenunglück in den USA mit 200 Toten oder die Entlassung von Arbeitern „weil eine momentane Überproduktion in der Industrie herrscht“. Diejenigen, die unter erbärmlichen Umständen jenen Luxus schaffen, über den seitenlang in den Boulevardblättern berichtet wird, heißen Sperber zufolge „nicht Helden, nicht vortreffliche Menschen, sie nennt man Vaterlandsverräter, unzufriedenes Gesindel, Ausschuss, wofür die Maschinengewehre noch zu gut sind“.
Das neue Medium Film und die so genannte „feine Gesellschaft“ hatten es den Boulevardblättern besonders angetan. Das Publikum gierte nach Informationen darüber, wen Graf X geheiratet und wo Baron Y zum Konzert geladen hat. Man wollte zu gern auch wissen, wie es bei Theater- und Filmschauspielern zuhause aussieht und mit wem sie gerade liiert waren. Dass der kaiserlichen Hof nicht frei von Skandalen war, ja dass im abgelegenen Schloss Grunewald in hochadligen Kreisen regelrechte Sexorgien gefeiert wurden, war ein durch den „Boulevard“ befeuertes Thema.
Dem in eine schlottrige Hauptmannsuniform gehüllten Schuster Wilhelm Voigt blieb es am 16. Oktober 1906 vorbehalten, der Welt vorzuführen, wie weit preußisch-deutscher Kadavergehorsam gehen kann. Das Satireblatt „Simplicissimus“ schlug vor, ihn mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, „weil es ihm auf so unnachahmliche Weise gelungen ist, den Militarismus lächerlich zu machen“. Sogar Kaiser Wilhelm II. soll sich auf die Schenkel geschlagen haben, als er von dem frechen Überfall auf den Bürgermeister von Köpenick bei Berlin und die Stadtkasse hörte. Dem kurzzeitig festgesetzten Beamten und seinen Untergebenen indes blieb das Lachen im Halse stecken, denn sie waren auf einen Hochstapler reingefallen und wurden nun der Presse zum Fraß vorgeworfen.
15. August 2025