Rieselfelder und Gemüsekirchen
Die Versorgung der Millionenstadt Berlin war in der Kaiserzeit ein großes Thema

Kleine Erhebungen am Rande Berlins wurden im 19. Jahrhundert zum Bau von Wasserbecken und Wassertürmen genutzt. Mit Hilfe von Dampfmaschinen hat man das Wasser nach oben gepumpt, um es von dort es in die Haushalte, öffentliche Brunnen, Betriebe und andere Stellen fließen.

Die gusseiserne Tafel am ehemaligen Wasserwerk III am Halleschen Ufer erinnert daran, dass hier eine nach der deutschen Reichseinigung erbaute Station des Berliner Kanalsystems existierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in dem Ziegelbau Marmorfiguren der Siegesallee aus der Kaiserzeit deponiert.

Der Bau der unterirdischen Kanäle quer durch die Stadt und auf diesem Foto unter dem Alexanderplatz war im Wesentlichen schwere Hand- und Knochenarbeit.

Ein nahe Zepernick bei Berlin liegendes Stadtgut erhielt 1908 den Namen Hobrechtsfelde, dort wird an den 1902 verstorbenen Stadtbaurat und Stadtältesten erinnert.

Das Denkmal in der Nähe der Berliner Berliner Charité und die Bronzebüste auf ihrem Gelände ehren den berühmten Arzt, Prähistoriker und Politiker Rudolf Virchow.

Die Markthalle VI an der Ackerstraße („Ackerhalle) ist außen original erhalten, im Inneren aber sehen die Verkaufsstände ganz anders als zur Kaiserzeit aus.

Marktfrauen und Hökerinnen, die die Standmieten nicht aufbringen konnten oder wollten, wehrten sich vergeblich gegen die Markthallen und mussten ihre Ware weiter auf der Straße anbieten. Hier ein Blick in die Markthalle an der Karlstraße, heute Reinhardtstraße.
Fotos/Repros: Caspar
Nach der Reichseinigung von 1871 erlebte die neue Hauptstadt einen Bauboom ohnegleichen. Wie Pilze schossen neue Wohnquartiere und Fabriken, Ministerien, Banken, Kasernen, Gerichtsgebäude, Gefängnissen Theater, Vergnügungsetablissements und andere Bauten aus dem Boden. Berlin entwickelte sich zur Millionenstadt mit allen ihren Licht- und Schattenseiten, die der rasante Bevölkerungszuwachs mit sich bringt. Die Entsorgung der Abfälle und Abwässer war in der Stadt an der Spree, und nicht nur dort, schon immer ein ernstes Problem. Es musste alles getan werden, um Epidemien vorzubeugen, forderte der prominente Arzt Rudolf Virchow und setzte gemeinsam mit dem aus England stammenden Stadtbaurat für Straßen- und Brückenbau, James Hobrecht, wichtige Verbesserungen durch, von denen wir heute noch profitieren. Große Wasserwerke, Schlachthöfe und Markthallen wurden angelegt, unterirdische Leitungen und Kanäle durchschnitten die Stadt. Hinzu kamen nach 1900 unterirdische, manchmal auch oberirdische Bahngleise, die die Erreichbarkeit der Stadtteile wesentlich verbesserten. Krankenanstalten, Friedhöfe und Krematorien wurden an der Peripherie angelegt.
Außerhalb der Stadt flossen die Abwässer auf Rieselfelder, denn der märkische Sand fungierte als preiswerter Filter. Heute übernehmen moderne Klärwerke diese Aufgabe. Der Berliner der Magistrat hatte zu diesem Zweck sowie für den Wohnungsbau und das Gewerbe, aber auch zur Erholung der Berliner bedeutende Flächen erworben. Heute verfügt Berlin im Umland über mehrere Stadtgüter. Die für sie zuständige Betriebsgesellschaft ist ein bedeutender Milcherzeuger. Der nach James Hobrecht benannte Hobrechtplan sah die Neuordnung der Stadt innerhalb ihrer Grenzen und die planmäßige Bebauung des Berliner Umlandes im Zuge der Stadterweiterung vor. Die von ihm entworfene Straßenstruktur ist noch heute an vielen Stellen zu erkennen.
Wachstum in geregelten Bahnen
Dem Ingenieur gelang es, das Wachstum der sich über ihre alten Grenzen ausbreitenden Stadt und der Nachbargemeinden in geregelte Bahnen zu lenken. Er konnte verhindern, dass Berlin in eine zersiedelte Industrielandschaft ohne klare Stadtkanten ausuferte. Wegweisend war Hobrechts Entwässerungskonzept für Berlin, das mit immensem Kostenaufwand zwischen 1874 und 1884 umgesetzt wurde und im Wesentlichen bis heute funktioniert. Die von ihm veranlassten Radialsysteme machten Berlin zu einer Stadt mit der damals modernsten Entwässerung. Weitere Städte im In- und Ausland von Stettin und Potsdam bis Moskau, Tokio und Kairo eiferten dem Berliner Vorbild nach. Nach seinen Vorschlag erhielt die Spree
zwischen Oberbaum und Unterbaum eine Uferbefestigung, die auch die Schifffahrt durch die Berliner Innenstadt gestattete. Als Vorsitzender des Berliner Architektenvereins gab er überdies der rasch wachsenden Reichshauptstadt ein repräsentatives Gesicht. Zwischen 1872 und 1874 hatte der Stadtbaurat einen Lehrauftrag an der Bauakademie inne.
Wenn von James Hobrecht gesprochen wird, muss man auch Rudolf Virchow erwähnen. Die preußische Obrigkeit hatte es mit dem Mediziner, Prähistoriker und Parlamentarier nie leicht gehabt. In der Revolution von 1848/49 hatte er als Demokrat und Liberaler den Zorn von Friedrich Wilhelm IV. und seiner Kamarilla auf sich gezogen. Er ging nach Würzburg und kehrte erst 1856 in die preußische Hauptstadt zurück. Der König von Preußen hatte gehofft, der Arzt werde nur noch „seinen Leichen Demokrat sein“. Doch das war ein großer Irrtum. Denn Virchow blieb sich und seiner Gesinnung treu, wurde Stadtverordneter, gründete mit anderen die Deutsche Fortschrittspartei und legte sich mit Otto von Bismarck an. Der preußische Ministerpräsident und ab 1871 deutsche Reichskanzler forderte ihn 1865 sogar zu einem Duell auf, das der Mediziner aber ablehnte.
Verkauf unter freiem Himmel und in Hallen
Vieles haben die Berliner Virchow zu verdanken. Genannt seien neben der Kanalisation und der Anlage von Klärwerken, dem Bau von Krankenhäusern und der Anstellung von Schulärzten auch wichtige Neuerungen auf dem Gebiet der Hygiene wie der Bau von Markthallen und die offizielle Fleischbeschau. Nicht unerwähnt sollte sein, dass der Professor einen guten Namen als Anthropologe, Ethnologe sowie Archäologe besaß und auch Mitbegründer des Märkischen Museums und des Völkerkundemuseums war, das heute als Ethnologisches Museum zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehört.
Jahrhundertelang wurden in Berlin, und nicht nur dort, Lebensmittel und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse unter freiem Himmel verkauft. Das war mit manchen Problemen verbunden, denn Fleisch, Fisch, Butter, Milch, Gemüse und andere Waren konnten schnell verderben. Auf Wochenmärkten und in Straßen boten die Händler ihre schnell verderbliche Ware an. Die Stände zu beliefern, war nicht einfach, denn die Zufahrten waren regelmäßig durch Pferde- und Handwagen verstopft. Die Hygiene beim Straßenverkauf ließ zu wünschen übrig. Außerdem war die Entsorgung der Abfälle und unverkauften Produkte nicht geregelt.
Seit der Revolution von 1848 gab es Pläne zum Bau einer Markthalle. Die erste wurde zwischen Karlstraße und Schiffbauerdamm errichtet. 1867 eröffnet, musste sie wegen fehlenden Umsatzes bald wieder schließen. Die Halle lebte als Zirkus weiter, weshalb die Straße bis 1891 Markthallenstraße hieß. Später nannte man sie Am Cirkus und heute Am Zirkus. Aus der Halle wurde der Friedrichstadtpalast, der 1984/5 abgerissen und durch einen Neubau an der Friedrichstraße ersetzt wurde.
Der Bauch von Berlin
Wegen ihrer aufwändigen Gestaltung mit Türmen und Rundbogenfenstern, reichem Skulpturenschmuck und kostbarer Innenausstattung nannte man die Hallen auch „Gemüsekirchen“, es gab auch den Spitznamen „Bauch von Berlin“. Insgesamt wurden 13 Markthallen in den Bezirken Mitte, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Wedding und Tiergarten erbaut. Die Markthallen-Herrlichkeit hat bis auf wenige Ausnahmen Kriege, Abrisse und Neubauplanungen nicht überstanden. Die Zentralmarkthalle am Alexanderplatz musste in den 1960-er Jahren der Neugestaltung des Ostberliner Stadtzentrums weichen, ebenso erging es einer zweiten Halle in der Nähe, die 1893 eröffnet wurde. Weitere Hallen sind Kriegsverluste oder wurden nach 1945 abgetragen und überbaut. Ganz oder in Resten erhalten sind die Markthallen in der Zimmerstraße 90/91, Dorotheenstraße 29, Ackerstraße 23/26, Dresdner Straße 27, Pücklerstraße 43/44, am Arminiusplatz und am Marheineckeplatz.
Die Vorkämpfer der Markthallenbewegung ließen sich von dem Rückschlag nicht beeindrucken. Die Berliner Immobilien-AG erklärte 1871, nicht eine, sondern elf Markthallen bauen zu wollen. Das gefiel dem Polizeipräsidenten Guido von Madai nicht. Er befürchtete, dass ein Unternehmen mit einem Monopol auf die Hallen der Preistreiberei Vorschub leisten könnte, und forderte eine Beteiligung der Stadt an den Markthallen. Noch waren die Hungerkrawalle in böser Erinnerung, die Jahrzehnte zuvor für den Ausbruch der 1848-er Revolution mitverantwortlich waren. Die Sache blieb weiter auf der Tagesordnung, und so wurde 1886 nach französischem Vorbild mit dem Bau der Zentralmarkthalle am Alexanderplatz begonnen. Die gute Versorgung der Berliner mit Lebensmitteln hatte auch einen sicherheitspolitischen Aspekt, denn man hatte bei der Belagerung von Paris im Krieg von 1870/71 gegen Frankreich erkannt, wie wichtig sicher gelagerte Vorräte zum Überleben sind. Da man mit einem neuen Krieg gegen das Nachbarland rechnete, war nicht ausgeschlossen, dass die Reichshauptstadt in eine ähnlich prekäre Lage kommt.
Bequeme Zufuhr der Vorräte
Die nach Plänen des Stadtbaurats Hermann Blankenstein erbaute Zentralmarkthalle mit direktem Anschluss an das Eisenbahnnetz blieb nicht allein. In seinem Berlin-Buch von 1893 schrieb Paul Lindemann über die Verpflegung Berlins: „Die Vorteile des Markthallenverkehrs liegen klar aus der Hand; durch die rasche Verbindung, durch die Konzentrierung der Geschäfte, durch das Sparen von Zeit und Geld und durch die bequeme Zufuhr der bedeutendsten Vorräte ist es dem Großhandel möglich, dem Detailverkauf die niedrigsten Preise zu stellen, und letzterer kann deshalb auch dem Publikum wieder billiger zu liefern. [...] Geschützt vor Schnee, Sturm und sonstigen Wetterpossen schreiten die Hausfrauen in mächtigen, gedeckten, luftigen Hallen und auf mit Steinfliesen gepflasterten sauberen Erdboden dahin, können mit Muße das Beste auswählen, brauchen nicht ihr Geld (und wie manches Stück ging dabei verloren!) auf bestaubten Kartoffelsäcken und regentriefenden Apfeltonnen aufzählen, können an jedem Tage und fast zu jeder Stunde ihre Markthalleneinkäufe besorgen und finden stets gute und frische Ware, da hier ja für reichlichste Ergänzung gesorgt ist“.
Befürchtungen, die Markthallen würden vom Publikum nicht angenommen, trafen nicht zu. Im Gegenteil war der Bau am Alexanderplatz als Hochburg aller Hallen in Berlin, wie Lindenberg schrieb, schon bald zu klein und musste erweitert werden. „Welcher Berliner hätte es sich vor zwanzig Jahren träumen lassen, dass Butter, Radieschen, Fische und dergleichen mehr auf elektrisch erhelltem Markte und von hocheleganten Marmorplatten verkauft würden“, schrieb Lindenberg und rechnete vor, dass in einem einzigen Jahr in der Zentralmarkthalle an 1700 Ständen auf 6000 Quadratmetern alles verkauft wurde, was Leib, Magen und Augen erfreut.
Der Journalist Julius Rodenberg fasste seine Eindrücke 1886 mit diesen Worten zusammen: „Am 3. Mai dieses Jahres 1886, eine Stunde vor Mitternacht, sollte das Mirakel geschehen, und es geschah; und als wir am anderen Morgen in die vom Frühlingssonnenschein durchleuchtete Halle traten, das schwammen die Fische so vergnügt in ihren Kübeln, hingen die großen Braten so verlockend an ihren Krampen, entsandten Blumen und die Käse so lieblichen Duft, standen die trefflichen Marktweiber, deren Bekanntschaft wir unter den historischen Regenschirmen des Ancien régimes gemacht, so würdevoll in ihrem neuen Palast und rollten obenhin die Stadtbahnzüge mit so majestätischem Donner, dass wir demutsvoll die Augen niederschlugen und im Herzen dem Magistrat Lob sangen, der dies alles so herrlich vollbracht“.
29. März 2025