Von Goebbels zu Honecker
Bundesregierung nimmt sich einer in den Dornröschenschlaf gefallenen Kaderschmiede der SED an

Eine dauerhafte und sinnstiftende Nutzung für das Areal am Bogensee, die den Unrechtsstaat DDR und die NS-Diktatur kritisch in den Blick nimmt, fand bisher nicht statt.

Ab und zu verirren sich Touristen und andere Neugierige hierher und wundern sich, dass der Berliner Senat als Eigentümer den Verfall des unter Denkmalschutz stehenden Geländes zulässt.

Bald reichte Goebbels das bescheidene Blockhaus am Bogensee nicht mehr aus. Es musste etwas Größeres, Pompöseres her, das mit Görings Landsitz Carinhall in der Schorfheide mithalten konnte Der Filmkonzern UFA, der dem Propagandaminister zu großem Dank verpflichtet war, trug 1,5 Millionen Reichsmark zum Neubau bei.

In der Jugendhochschule, und nicht nur dort, wurden die Lehren des Marxismus-Leninismus-Stalinismus gelernt, man erwartete von den Studentinnen und Studenten, dass sie diese praktisch auch im Schlaf hersagen können. Ob die „Kursanten“, die sich fleißig über die Werke von Marx, Engels, Lenin und (bis 1956) Stalin beugen, auch wussten, wer sich vor ihnen am Bogensee verlustiert hat?

Wolfgang Leonhard entwickelte sich vom SED-Propagandisten in Bogensee und an der Parteihochschule zu einem scharfen Kritiker des Stalinismus und der Machenschaften der Kommunisten und wurde von diesen als gewissenloser Renegat diffamiert.

Fröhlich sein und singen und immer hübsch auf der Parteilinie bleiben – dieses Ziel bestimmte die so genannte Jugendpolitik der SED, hier ausgedrückt auf einem Wandbild in den Arkaden des heutigen Bundesfinanzministeriums an der Leipziger Straße in Berlin-Mitte.

Wie die Made im Speck und ganz und gar abgehoben von der tristen Lebenswirklichkeit vieler ihrer ihren Untertanen lebten Ulbricht, Honecker und ihresgleichen, hier zu sehen 1970 beim Verlassen eines Wahllokals im Pankower „Städtchen“.
Fotos/Repros: Caspar
Malerisch am Bogensee im Landkreis Barnim gelegen, dienten das weitläufige Gelände und seine Bauten während dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels als repräsentativer Landsitz und Liebesnest. Nach dem Zweiten Weltkrieg war hier FDJ-Hochschule „Wilhelm Pieck“ als Kaderschmiede der SED und ihrer Jugendorganisation FDJ untergebracht. Es gab Internatsgebäude, eine Sporthalle, ein Heizhaus und das Lektionshaus mit einer Simultananlage für 18 Fremdsprachenkabinen und 560 Sitzplätzen. Wo bis zum Ende der Honecker-Herrschaft ausgewählte Jugendfunktionäre und Gäste aus befreundeten Ländern letzten ideologischen Schliff erhielten, gingen nach 1989/90 die Lichter aus. „Marxismus-Leninismus“ und „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ hatten ausgedient, und auch die Errichtung der Weltherrschaft unter kommunistischen Vorzeichen war kein Thema mehr. Seit über 20 Jahren ist das Areal ungenutzt und verfällt. Der Landkreis Barnim und die Gemeinde Wandlitz pochen auf eine neue Nutzung des historisch belasteten Geländes.
Die Bauten befinden sich in einer Entfernung von rund 500 Meter nordwestlich des Seeufers. Leitender Architekt war Hermann Henselmann, der maßgeblich auch die Berliner Stalinallee im Stil des Sozialistischen Klassizismus gestaltet hat. Als 1981 Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR weilte, hielt er in der Jugendhochschule am Bogensee eine Pressekonferenz ab. Aus diesem Grund wurden für rund 70 Millionen Mark die gröbsten Bauschäden beseitigt, und das Haupthaus erhielt einen frischen Anstrich. Fassadenkosmetik war üblich; so hat man auch die unteren Etagen von Häusern entlang der „Protokollstrecke“ von der Funktionärssiedlung Wandlitz in die Ostberliner Innenstadt hübsch angestrichen.
Nationale Projekte des Städtebaus
Bis 1998 nutzte der „Internationale Bund für Sozialarbeit“ einige Gebäude am Bogensee, andere fielen in den Dornröschenschlaf, und auch das Grün um sie herum erhielt nicht mehr die Pflege wie noch zu DDR-Zeiten. Das Land Berlin, dem das Areal nördlich der Hauptstadt gehört, nutzte zuletzt das Areal für die Weiterbildung der Polizei. Teure Pläne, das Gelände und die Gebäude in einen Bildungscampus zu verwandeln, zerschlugen sich wegen der enormen Sanierungskosten, der abgelegenen Lage und sicher auch der unappetitlichen Vergangenheit von „Bogensee“, wie es in damaligen Verlautbarungen hieß. Im Senat wurde sogar laut darüber nachgedacht die Immobilie zu verschenken oder auch die unliebsamen Gebäude abzureißen. Die jährlichen Kosten für das rund 16 Hektar große Gebiet belaufen sich laut Berliner Verwaltung auf rund 250.000 bis 300.000 Euro.
Abriss und „Erde drüber“ wird wohl nicht passieren, denn die Bundesregierung hat signalisiert , sich der Anlage anzunehmen. Eine Studie soll eine angemessene neue Nutzung klären, um dann praktische Maßnahmen beginnen zu können. Für die Studie und die Suche nach Investoren sind drei Jahre eingeplant, wie aus einer Antwort des Bundesbauministeriums auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Katalin Gennburg (Linke) hervorgeht. Das Bundesbauministerium schreibt, es strebe nach wie vor am Erhalt des geschichtsträchtigen und durch zwei Diktaturen geprägten Areals an. Im Rahmen des Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ werde eine Studie gefördert, in der die Gemeinde Wandlitz mit Unterstützung des Landkreises Barnim und weiterer Akteure neue Perspektiven für eine Nutzung erarbeitet. Mit ihm sollen auch mögliche Investoren gefunden werden. „Für vorbereitende Arbeiten, Erstellung der Studie und gezielte Investorensuche ist ein Zeitraum von drei Jahren anberaumt." Das Bundesministerium erwarte, dass "die Beteiligten auf allen Seiten den begonnenen Prozess zur Rettung und Entwicklung des denkmalgeschützten Areals Bogensee konstruktiv unterstützen". Berlin als Eigentümer teilte im Juni 2025 mit, dass bei der Suche nach einer neuen Nutzung 13 Bewerber geprüft werden sollen.
Bock von Babelsberg und sein Harem
Das Hauptgebäude von Goebbels' Sommersitz hatte 30 Zimmer mit einer Grundfläche von 1600 Quadratmeter, ein Kino, ein großes Kaminzimmer und manch andere normalen „Volksgenossen“ unbekannte Annehmlichkeiten. Der Propagandaminister soll Schauspielerinnen in den „Waldhof am Bogensee“ eingeladen haben, um sich mit ihnen zu vergnügen. Die Stadt Berlin hatte ihm das Gelände zunächst nur mit einer bescheidenen Blockhütte geschenkt. Mit der Zeit aber entstand am Bogensee eine Dreiflügelanlage samt Gästehaus sowie Wach- und Wirtschaftsgebäuden und einem Bunker. Dass der in Anspielung auf den Filmstandort bei Potsdam auch „Bock von Babelsberg“ genannte Minister einen Harem unterhielt, war im NS-Reich ein offenes Geheimnis. Hitler gebot seinem bis in den Tod getreuen Paladin Zurückhaltung und Wahrung der Form und untersagte der Ehefrau Magda Goebbels jeden Gedanken an Scheidung. Zweifel an der „moralischen Integrität“ seiner engsten Gefolgsleute konnte der „Führer“ überhaupt nicht nicht gebrauchen. Ob die auch nach sowjetischem Vorbild „Kursanten“ genannten Studenten der FDJ-Hochschule wussten, wer ihr Vorgänger war und was sich am Bogensee während der Nazizeit abspielte, ist nicht bekannt. Aber man darf davon ausgehen, dass darüber ungern gesprochen wurde.
Am 9. März 1946 wurden das Gelände und die Gebäude von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland an die neu gegründete Freie Deutsche Jugend, die Jugendorganisation der SED übergeben. Schon bald begann der erste Lehrgang in der provisorisch hergerichteten Jugendhochschule. Dort und anderswo im deutschen Osten über die Lehren des Marxismus-Leninismus und aktuelle Politik kritisch nachzudenken und darüber zu sprechen, war ein Sakrileg und hatte böse Konsequenzen. Über allem stand Josef Stalin, der als weiser Führer des Weltproletariats gefeiert wurde. Als er 1953 starb, herrschte auch am Bogensee tiefe Trauer. Dass der Diktator und Massenmörder drei Jahre später auf dem XX. Parteitag den KPdSU von seinem Nachfolger Nikita Chruschtschow quasi vom Sockel des Übervaters und Alleskönners geholt wurde, dürfte am Bogensee kaum jemand mitbekommen haben, denn Westsender und westliche Zeitungen, die darüber berichteten, waren in den heiligen Hallen strikt verboten.
Ulbricht spottet über Dogmatiker
Als der Schleier vom toten Stalin gezogen war, war der Diktator kein „Klassiker“ mehr. SED-Führer Walter Ulbricht versuchte es mit Spott, was aus seinem Munde besonders komisch klang. Vor der Berliner Parteiorganisation machte er sich über junge Genossen lustig, „die im Parteilehrjahr bestimmte Dogmen auswendig gelernt haben und nun erleben, dass einige Dogmen nicht mehr ins Leben passen. Aber jetzt sagen manche nicht etwa, der Dogmatismus ist nicht richtig, sondern da stimmt etwas im Leben nicht". Mit Heiterkeit quittierten die Zuhörer die Ausfälle ihres Chefs und vergaßen, dass sie Stalins Worte ständig nachgebetet hatten.
Zu den Dozenten an der SED-Parteihochschule und am Bogensee gehörte der Jungkommunist Wolfgang Leonhard. Als ein in Moskau geschulter Propagandist des Marxismus-Leninismus und Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ wirkte er am Wiederaufbau in der Sowjetischen Besatzungszone mit, die sich am 7. Oktober 1949 als DDR etablierte. Bei seinen Fahrten durch Ostdeutschland und Gesprächen mit Funktionären und mit einfachen Leuten sah der Verfasser von Schulungsheften und Propagandamaterialien immer deutlicher die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, Oben und Unten. Zwar galt in diesen Kreisen das Prinzip „Kritik und Selbstkritik“. Doch wer das Tun und Denken der „führenden Genossen“, ihren Dogmatismus und ihre schamlose Selbstversorgung mit Lebensmittelpaketen, den so genannten Pajoks, mit einträglichen Posten, Wohnungen und Villen sowie Kleidung, die der Normalbürger nicht zu kaufen bekam, einer kritischen Sicht unterzog und sich mit anderen austauschte, musste als „Parteifeind“ um seine Arbeitsstelle und Freiheit fürchten.
Wolfgang Leonhards Flucht in den Westen
Wolfgang Leonhard hatte in der Parteiführung einen guten Stand. Aber irgendwann fragte er sich, was er zu welchem Zweck er tut. Er ging auf Distanz zu der ganz auf die stalinistische Sowjetunion orientierten SED-Führung. Deren komfortables Leben in der „Städtchen“ genannten Funktionärssiedlung Niederschönhausen im Ostberliner Bezirk Pankow lernte er bei regelmäßigen Besuchen kennen und nach und nach verachten. Seine Flucht in den Westen (1949), die Leonhard am Beginn und am Ende seines berühmten Buches „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ beschrieben hat, führte nicht zufällig nach Jugoslawien, das wegen der dort herrschenden „Abweichler“ mit Staats- und Parteichef Tito an der Spitze von den Ostblockstaaten als Todfeind betrachtet wurde. Wer als „Titoist“ und Vertreter eines Gegenentwurfs zum Sozialismus sowjetischer, das heißt stalinistischer Prägung entlarvt wurde, und dazu gehörte auch Leonhard, war des Teufels und wurde verfolgt und bestraft, sofern man seiner habhaft wurde.
Letzter Auslöser für die spektakuläre Flucht war, dass Leonhard Kollegen und Studenten auf dem Index stehende Materialien der jugoslawischen Kommunisten zum Lesen gegeben hatte. „Wie sehr musste die SED-Führung diese Materialien fürchten, wenn sie sich zu so außerordentlichen Maßnahmen gezwungen fühlte.“ Diese bestanden nach Leonhards Flucht in peinlichen Untersuchungen in der Parteihochschule und der Auflösung der von ihm geführten Klasse sowie in Maßregelungen einiger Kursteilnehmer, nur weil sich Leonhard sie für ein weiterführendes Studium empfohlen hatte. Dass sich ein scheinbar linientreuer Funktionär, der als Emigrant zehn Jahre in der Sowjetunion erzogen und ausgebildet worden war und der auch Kenntnis von Stalins Massenmorden hatte, durch Flucht seinen Genossen entzieht, konnte nur die Tat eines gewissenlosen Renegaten gewesen sein, und es wurden alle Vorkehrungen getroffen, dass sich dieses Beispiel nicht wiederholt.
Spätere „Fälle“ von Genossen zeigen, die sich eigenes Denken nicht verbieten lässt, und wie mit Abweichlern von der erst von Ulbricht und ab 1971 umgegangen wurde. Nachdem er sich in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen hatte, verarbeitete Leonhard seine traumatischen Erlebnisse im Land des Josef Stalin und nach 1945 in der DDR in dem erwähnten Buch und weiteren Publikationen. Er erhielt in Oxford eine Geschichtsprofessur und entwickelte sich zu einem führenden Kenner und Kritiker der Sowjetunion, der DDR und des Kommunismus. Bis zu einem Tod 2014 war der Warner und Mahner mit der auffälligen Haartolle und markanten Stimme immer mal wieder auch in Talkshows des Fernsehens und in Filmen zu sehen, die sich mit den Verlockungen und Verbrechen des Stalinismus und DDR-Geschichte befassen.
13. Juli 2025