Sturm auf die Stasi-Bastille
Vor 35 Jahren wurde verhindert, dass Mielkes Leute weiterhin brisante Akten vernichten



Das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit an der Ruschestraße im Berliner Bezirk Lichtenberg wurde vor am 15. Januar 1990, vor 35 Jahren, von wütenden Bürgerrechtlern unter dem Motto „Mit Fantasie gegen Stasi und Nasi“ (gemeint ist das Amt für Nationale Sicherheit als Nachfolger des MfS) mit dem Ziel gestürmt, die Vernichtung der Akten zu stoppen und die nach dem Mauerfall am 9. November 1989 noch virulenten Strukturen des MfS zu zerschlagen. Im Hof erinnert eine Außenausstellung an die dramatischen Ereignisse von damals.

  

Was von den Stasi-Akten nicht sofort vernichtet wurde, landete in Papiersäcken. Es blieben auch kilometerlange sauber abgeheftete Aktenbestände erhalten. Die Unterlagen werden seit 35 Jahren analysiert. Manche Dokumente konnten mit Hilfe modernster Technik sehr zum Ärger der Täter und zur Genugtuung der Opfer rekonstruiert werden.



Im Berliner U-Bahnhof Magdalenenstraße gleich neben dem früheren Ministerium für Staatssicherheit berichtet ein in die Wand eingelassenes Foto von einer Mahnwache an der Ruschestraße, mit der im Verlauf des Jahres 1990 Forderungen zum Zugang von Stasi-Opfern zu ihren Akten bekräftigt wurden.



Als am 15. Januar 1990 das Ministerium für Staatssicherheit gestürmt wurde, war das Ende des von Armeegeneral Erich Mielke - hier bei der Parade mit SED- und Staatschef Erich Honecker - geleiteten DDR-Geheimdienstes gekommen. Stasi-Leute ließen nichts unversucht, die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit als Siegerjustiz und Rachefeldzug des „Klassenfeindes“ zu diffamieren.



In eine Gedenkstätte umgewandelt sind die Räume mit leeren Panzerschränken und Bürotischen, von denen aus Erich Mielke sein Imperium geleitet hat.



Zerschnipselte Akten, Reste von Tonbändern und jede Menge technische Geräte zu Beobachtung und Unterdrückung missliebiger DDR-Bewohner sind im Stasi-Museum an der Ruschestraße ausgestellt.

Fotos: Caspar

Opfer von Stasiminister Erich Mielke und seines Überwachungs- und Verfolgungswahns haben vor 35 Jahren mit wachsendem Entsetzen bemerkt, wie sich seine Leute aus ihren Dienststellen verdrücken und neue Jobs annehmen. Derweil liefen sich im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) an der Ruschestraße im Berliner Bezirk Lichtenberg die Papierschredder mit den zur Vernichtung bestimmten Akten heiß. In den Heizungskellern wurden Sonderschichten gefahren, weil dort Berge von brisanten Akten verbrannt wurden. Nicht anders ging es in den Bezirksverwaltungen und Dienststellen des Stasi-Imperiums zu. Da zum Glück nicht alle Spitzelberichte, Abhörprotokolle, Mordbefehle, IM-Verpflichtungen, Fotos, Filme und Tonbänder und all die anderen in mehr als 40 Jahren zusammengetragenen Materialien vernichtet werden konnten, blieb eine gewaltige Masse erhalten und steht seither für die Aufarbeitung dieses besonders dunklen Kapitels der DDR-Geschichte zur Verfügung.

Hans Modrow, der frühere SED-Chef des Bezirks Dresden und nunmehriger DDR-Ministerpräsident als Nachfolger von Willi Stoph, tat sich mit der ehrlichen Aufarbeitung der Stasi-Verbrechen schwer. Zunächst gab es nur eine kosmetische Korrektur, indem das MfS in ein Amt für nationale Sicherheit (AfNS) zurückgestuft wurde. Die Umbenennung sollte signalisieren, dass das Mielke-Ministerium nicht mehr Staat im Staate und „Schild und Schwert der Partei“, also der SED, ist. Modrow erwartete von dem weiterhin mit alten Stasi-Kadern besetzten Amt „neues Denken in Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" und ließ den krakenartig tätigen Apparat verkleinern. Näheres sollte ein Gesetz regeln, das aber nie verabschiedet wurde.

„Revolutionäre Erneuerung“
Neuer Amtschef in der Stasi-Bastille war Mielkes früherer Stellvertreter, der Stasi-General Wolfgang Schwanitz. Er schwor seine Leute auf einen „Prozess der revolutionären Erneuerung“ ein, bildete Kommissionen für die nicht näher definierte Neustrukturierung. Intern befahl Egon Krenz als Nachfolger von SED- und Staatschef Erich Honecker, brisante Stasi- Akten und Pläne für einen möglichen Bürgerkrieg im Inneren verschwinden zu lassen. Gemeint waren damit auch die so genannten Isolierungsobjekte, in denen 200 000 Dissidenten, Bürgerrechtler und andere als feindlich-negativ eingestufte Personen im Fall innerer Unruhen eingesperrt werden sollten.

Von einem Tag auf den andern galten die alten Feindbilder nichts mehr. In einer Zeit, da sich die DDR auf den Weg in Richtung Wiedervereinigung machte, wollte man „Andersdenkende" tolerieren und statt ihrer nur noch „Verfassungsfeinde“ bekämpfen. Wer das sein sollte, war unklar, denn die auf die Vorherrschaft der SED ausgerichtete Verfassung hatte ausgedient. Die Bevölkerung bewertete die Umwandlung des Ministeriums in ein Amt kritisch, und es kam in den folgenden Wochen zu Besetzungen von Stasi-Dienststellen quer durch die Republik.

Verunsicherung und Enttäuschung
Staatstragende Bekenntnisse waren die eine Sache, die massenhafte Vernichtung von Akten, die Verwischung von Spuren und die „Abschaltung“ von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) eine andere. Da die Medien in der Noch-DDR und in der Bundesrepublik Namen und Adressen von Stasileuten veröffentlichten und bei Demonstrationen kategorisch „Stasi an die Stanze“ oder „Stasi in den Tagebau“ gefordert wurde, verbreitete sich unter Mielkes Mannen Angst und oft auch Verzweiflung bis hin zu Suiziden. Unter den offiziellen und den inoffiziellen Stasileuten herrschte eine bedrückte Stimmung. Von Verunsicherung und Enttäuschung war die Rede. Doch mag es auch Scham und selbstkritisches Nachdenken darüber gegeben haben, was man im Dienst der SED und des MfS angerichtet hat.

Bürgerrechtler und Stasi-Opfer, die oft beides in einem waren, taten alles, um Licht in die Machenschaften der Geheimdienstler zu bringen. Bereits am 4. Dezember 1989 wurde die MfS-Zentrale des Bezirks Erfurt von erbosten Bürgern gestürmt, nachdem verbreitet worden war, das dort Akten vernichtet werden. Ähnlich gingen Bürgergruppen auch in Leipzig, Rostock und anderen Städten vor.

„Bringt Kalk und Mauersteine mit!“
Besonders spektakulär verlief der große Sturm auf das Ministerium für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg am 15. Januar 1990. Mit dem Aufruf „Schreibt Eure Forderungen an die Mauern der Normannenstraße! Bringt Farbe und Spraydosen mit! Wir schließen die Tore der Stasi! Bringt Kalk und Mauersteine mit!“ rief das Neue Forum zum Sturm auf die Mielkes Hauptquartier an der Normannen-/Ruschestraße im Ostberliner Bezirk Lichtenberg auf. Widerstandslos wurden die Demonstranten in die Amtsräume von Minister Mielke und seinen Untergebenen eingelassen. Bürgerrechtler öffneten Panzerschränke und Registraturen, stellten Akten, Bilder und manchen Stasi-Kitsch sicher. Den einen oder anderen vor der Vernichtung bewahrten Gegenstand kann heute in den als Museum und Gedenkstätte genutzten Räumen besichtigen.

Mit ihrer Aktion unter dem Motto „Ohne Gewalt – mit Farbe und Phantasie“ wollten Bürgerrechtler den Druck auf die Modrow-Regierung verstärken, die Auflösung des DDR-Geheimdienstes voranzutreiben und Ermittlungsverfahren gegen seine Mitarbeiter einzuleiten. Unter dem Eindruck des Sturms auf die Stasi sah sich die Regierung genötigt, die Arbeit des einst mächtigen Repressionsapparats einzustellen. Zur symbolischen Einmauerung des Geländes kam es nicht. Stasi-Leute bewerteten den Sturm auf die Stasi-Bastille als weiteren bedeutsamen Akt der Selbstaufgabe der DDR und als „Sieg der Konterrevolution“. Mitte Januar existierten die meisten Kreis- und Objektdienststellen nicht mehr, von den 15 Bezirksverwaltungen des MfS waren acht durch Besetzung nicht mehr arbeitsfähig. Das ganz und gar demoralisierte Stasi-Wachregiment war nicht mehr in der Lage, die MfS-Objekte zu schützen. Die meisten Stasileute von Generalen bis zu Rängen ganz unten waren entlassen, und auch die Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst war unterbrochen.

Haarsträubende Spitzelberichte
Nach wie vor hält sich das Gerücht, der Sturm auf das MfS und die Demolierung von Versorgungseinrichtungen und Mobiliar an jenem 15. Januar 1990 sei von der Stasi inszeniert worden, um in seinem Schatten brisante Akten beiseite zu schaffen und die Bürgerbewegung als gewaltbereit und zerstörerisch in Misskredit zu bringen. Erste Vermutungen in dieser Richtung kamen unmittelbar nach der von den Medien begleiteten Aktion auf und wurden seither in diversen Publikationen über das Ende von Mielkes Truppe erörtert, nicht aber endgültig geklärt. Der Umgang mit den in großen Mengen hinterlassenen Stasi-Dokumenten wurde durch ein spezielles-Gesetz geregelt, das vom Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedet wurde und am 29. Dezember 1991 in Kraft trat. Wichtigstes Ziel war und ist die vollständige Öffnung der Akten des ehemaligen DDR-Geheimdienstes. Es eröffnete von Repression und Haft betroffenen Personen die Möglichkeit, die sie betreffenden Akten zu lesen. Bürger aus beiden deutschen Staaten lasen haarsträubende Spitzelberichte und andere Unterlagen, die über sie angelegt worden waren, und sie erkannten auch, wie nahe der Geheimdienst ihnen gekommen war.

Bald nach dem Sturm auf das Ministerium für Staatssicherheit wurde im Haus 1, dem Sitz des Ministers, ein Museum eingerichtet, das die Geschichte des DDR-Geheimdienstes und seine Verbrechen dokumentiert. Dort kann man nicht nur die nahezu unveränderten Arbeitsräume des Ministers Mielke und weiterer Stasi-Generäle besichtigen, sondern auch Gerätschaften zur Beobachtung des so genannten Klassengegners und von Oppositionellen betrachten. Außerdem werden Methoden zu ihrer Ausgrenzung und Zersetzung des, wie es damals hieß, Klassenfeindes dokumentiert.

Archiv sucht Zeitzeugen
Um zu verhindern, dass die Stasiakten irgendwo im Nirwana verschwinden und zerstörte Dokumente wieder lesbar gemacht werden, wurde Amt des/der Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BstU) eingerichtet. Es wurde zunächst von dem Rostocker Pfarrer, DDR-Bürgerrechtler und späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck geleitet und daher Gauck-Behörde genannt und hieß später Birthler-Behörde nach der Bürgerrechtlerin Marianne Birthler . 2011 wählte der Deutsche Bundestag Roland Jahn zum neuen Bundesbeauftragten. Der frühere DDR-Bürgerrechtler und Journalist übte diese Tätigkeit über zehn Jahre aus, bis die Behörde 2021 in das Bundesarchiv überführt wurde. Mehr als zwei Millionen Menschen haben seit 1992 von dieser auch weiterhin im Bundesarchiv bestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, ihre Stasiakten zu lesen. Das in den ehemaligen Stasibauten in Berlin und anderen Städten der ehemaligen DDR eingerichtete Archiv sucht Zeitzeugen, die über die Akten hinaus Wichtiges über das unter Beobachtung des Geheimdienstes stehende Alltagsleben in der 1990 untergegangenen DDR mitteilen möchten.

11. Januar 2025