„Bleibendes stiften nur Bücher“

Günter de Bruyn schrieb mit den „Märkischen Forschungen“ eine wunderbare Satire auf den Wissenschaftsbetrieb in der DDR

 



Entdeckt und ermuntert vom Literaturprofessor Winfried Menzel (rechts), will Dorflehrer Erst Pötsch (dargestellt im DEFA-Film von 1982 von Hermann Beyer, Regie Roland Gräf) die Höhen der Wissenschaft erklimmen. Der eitle und machtbewusste Professor, der von Kurt Böwe gespielt wird, wendet die Gefahr dank des von der SED kontrollierten  Gutachterwesens ab.

 



Der bekannte Grafiker Karl Georg Hirsch schuf für das Buch von Günter de Bruyn die passenden Holzstiche. Der Professor macht hier den Dorflehrer nach der Lektüre des ihm zugedachten Aufsatzes nieder.

 



Warnungen aus Menzels Institut haben nichts genutzt – Pötsch trägt in der URANIA seine Erkenntnisse vor, die das Buch des prominenten Literaturprofessors zur Makulatur gemacht hätten, wären sie gedruckt worden.

 



Ernst Pötsch hat auf dem Friedhof in Mauernähe nichts zu suchen und soll sich um eine Genehmigung bemühen, weist der Grenzpolizist den wissbegierigen Besucher an. Der im Film von Eberhard Esche gespielte Literaturwissenschaftler Brattke warnt den Lehrer vor Menzel, der seine Untergeben zu Frondiensten zwingt und nur ausnutzt.

 

Fotos/Repros: DEFA-Stiftung, Caspar

 

Das 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig veröffentlichte Buch von Günter de Bruyn „Märkische Forschungen“ ist eine großartige Satire auf den ideologisch geprägten Wissenschafts- und Kulturbetrieb in der DDR zur Zeit von Ulbricht und Honecker. Da gibt es den selbstgefälligen und beratungsresistenten Literaturwissenschaftler Professor Dr. Winfried Menzel, der im DDR Fernsehen über seine auf dem Boden des Marxismus-Leninismus basierenden Sichtweisen auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spricht. Der unumschränkt herrschende Nationalpreisträger und Chef des Zentralinstituts für Historiographie und Historiomathie (ZIHiHi) gehört zur geistigen Elite der DDR und steht mit einem nicht näher beschriebenen Minister auf Du und Du. Er lässt Untergebene seine Erhabenheit und Überlegenheit fühlen und beschäftigt sie mit Korrekturlesen und Sekretariatsarbeiten. Diese flüchten sich in Ergebenheit und Resignation oder in Zynismus und opponieren nur in der inneren Emigration.

Winfried Menzel begegnet in der märkischen Provinz dem Dorflehrer Ernst Pötsch, der das Auto ders Professors aus dem Straßenschlamm zieht und sich als Verehrer des im märkischen Dorf Schwedenow geborenen Dichters Max (von) Schwedenow zu erkennen gibt. Menzel ist begeistert, in der tiefsten Provinz in dem hilfsbereiten Heimatforscher einen Kenner des 1813 im Kampf gegen Napoleon I. gefallenen Dichters gefunden zu haben. Diesem „märkischen Jakobiner“ möchte Menzel mit einem 600 Seiten starken Buch ein Denkmal setzen, die Veröffentlichung steht bevor. Dann endlich steigt der bisher unbekannte Dichter aus der Versenkung, hofft Menzel, und er wird im Schulunterricht behandelt. Vielleicht wird auch sein Leben verfilmt. „Bleibendes stiften nur Bücher“ weiß der ruhmsüchtige Menzel. Der Besitzer einer Bibliothek mit bibliophilen Seltenheiten und Freund von Leckereien, die man im normalen DDR-Laden nicht zu kaufen bekommt, weiß zu beeindrucken und zu blenden.

 

Umzug nach Berlin?

Zunächst freunden sich die ungleichen Männer an. Menzel bietet dem Landlehrer an, nach Berlin in sein Institut zu kommen und zu promovieren. Wie er den Klauen der von Margot Honecker, der allmächtigen Frau des Staats- und Parteichefs Erich Honecker, beherrschten Volks entkommen will, bleibt offen. Lediglich ist zu erfahren, dass Pötschs Absicht höchste Instanzen beschäftigt. Der Umzug in die „Hauptstadt der DDR“, wie man Ost-Berlin offiziell nannte, behagt Pötschs Frau Elke wenig. Doch zur Ortsveränderung und Anstellung im Institut kommt es nicht. Denn der Heimatforscher gelangt in seiner von Günter de Bruyn kenntnisreich beschrieben Sucharbeit in Bibliotheken und Archiven zu einem, was Schwedenow betrifft, anderen Ergebnis.

In einem Aufsatz, den er seinem künftigen Chef zum prunkvoll gefeierten 50. Geburtstag widmet, behauptet er, dass der fortschrittliche Max Schwedenow nur ein Pseudonym ist und nicht, wie von Menzel angenommen, in den Befreiungskriegen für König, Freiheit und Vaterland starb. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter Schwedenows Namen ein gewisser Friedrich Wilhelm von Massow, der sich nach den Karlsbader Beschlüssen von 1818 als Mitarbeiter des preußischen „Oberzensurkollegiums“ betätigte und „in ekelhafter Weise“ revoltierende Studenten als Jakobiner denunzierte, wie de Bruyn schreibt. Könnte Pötsch seine Sichtweise belegen, wäre Menzels epochales Buch nur noch Makulatur.

 

Die da oben und die da unten

Die Geburtstagsgäste Ernst und Elke Pötsch tauchen in der Villa des Professors in eine fremde Welt ein und sind angewidert. Inmitten schöner Möbel und edle Tropfen schlürfend, führt die von Günter den Bruyn vorgeführte Gesellschaft ein abgehobenes Leben, das zwischen denen da oben und denen da unten unterscheidet. Die DDR ist mitnichten der Staat der Arbeiter und Bauern, sondern der der Angeber und Bonzen. Menzel mag auf seiner Geburtstagsparty die in der Zeitung veröffentlichte Laudatio auf seine Person nicht wiederholen und lobt sich über sie hinaus um so mehr. Alle, die erschienen sind, stimmen der Lobhudelei zu, denn auch sie bekommen einiges von den Strahlen der Wohlgefälligkeit ab, die den Professor so reichlich treffen.

Wer wie Pötsch dem allseits verehrten Gelehrten mit unpassenden Fragen und abweichenden Erkenntnissen in die Quere kommt, hat nichts zu lachen. Das erfährt Pötsch schon bald. Zunächst aber sieht alles gut aus. Das Ehepaar Pötsch wird in die Villa Menzel eingeladen, wo zahlreiche Prominente dem Professor zum 50. Geburtstag gratulieren. Den Gästen aus der märkischen Provinz ist angesichts der Aufgeblasenheit um sie herum unwohl. Vor allem Elke Pötsch spürt die tiefe Kluft zwischen „denen“ in exquisiten Kleidern mit ebensolcher Versorgung und „denen da draußen“, die froh sind, wenn sie das Geld für einen Kühlschrank zusammenkratzen können. Das ist Systemkritik der besonderen Art, und es wäre interessant zu erfahren, wie die SED-beherrschte Zensur in den späten 1970er Jahren auf solche Anspielungen reagiert hat. Menzel jedenfalls ist in seinem Element, lässt sich schmeicheln und schmeichelt anderen.

 

Professor Menzel ist unzufrieden

Zu Pötschs Leidwesen ärgert sich der berühmte Professor über den ihm gewidmeten Aufsatz und bestellt erst später seinen nach der Wahrheit suchenden Freund zu sich, um das Ergebnis seiner Erkundungen in Stumpf und Stiel zu verdammen. Menzel tut das nicht inhaltlich, sondern hält sich oberlehrerhaft an Stilistikfehlern, schiefen Konjunktiven und zu großer Detailfreudigkeit, ja Detailbesessenheit fest. Dass unterschiedliche Personen behandelt werden, ist Menzel kein Wort wert. „Die Arbeit enthält gefährliche Thesen eines Hobby-Historikers, die zu beweisen er nicht fähig ist.“ Möge sie bis zum Jüngsten Tag in seiner, Menzels, Bibliothek stehen. Das sei das Beste für Pötsch und Menzel und die Wissenschaft.

Der Professor versteht es, über das in der DDR installierte Gutachterwesen die Publikation zu verhindern, und auch der Versuch, sie im Westen erscheinen zu lassen, scheitert. Ein von dort zurück geschickter Doppelbrief mit dem Manuskript ist ewig lange unterwegs und wurde vermutlich von der Postkontrolle der Stasi gründlich untersucht. Die Schnüffelei und auch die mangelhafte Versorgung der DDR-Bewohner mit Telefonen werden in dem Buch nur angedeutet, aber wer lesen konnte verstand, was gemeint ist.

 

Friedhof im Bereich der Berliner Mauer

Ernst Pötsch kommt nach Menzels der „Klatsche“ irgendwie in sein Dorf zurück. Dabei hatte er sich alle Mühe gegeben, die wahre Identität des von Menzel so verehrten Max Schwedenow zu klären und suchte verbissen nach dem Grab des Friedrich Wilhelm von Massow auf einem im Mauerbereich gelegenen Berliner Friedhof. Ein Grenzpolizist fragt dort den Lehrer nach seinem Wohin und Woher und ob er eine Genehmigung zum Besuch dieses Friedhofs hat. Pötsch muss den Ort ohne Ergebnis verlassen. Im Buch und im Film wird die„Mauer“, die höher als die des Friedhofs ist, und die Kontrolle durch die „Organe“ nicht näher angesprochen. Der bekannte Feuilletonist Hein Knobloch hat viel später beschrieben, wie er auf einem Berliner Friedhof hart an der DDR-Grenze nach mehreren Anläufen das Grab von Theodor Fontane fand und sich dumme Fragen der Wächter gefallen lassen musste.

Die Sklaven- und Kärrnerarbeit, wie sie  Brattke, ein frustrierter Mitarbeiter von Menzel, mit langweiligem Korrekturlesen verrichtet, bleibt Pötsch erspart. Gegen alle Warnungen aus Institutskreisen stellt er bei der Urania In einem Vortag die von Menzel in jahrelanger Arbeit verfasste Biographie infrage und macht sich ihn damit zum Feind. Am Ende des Buches sucht der aus dem Schuldienst ausgeschiedene und weiter als Traktoristen arbeitende Pötsch verzweifelt nach einem letzten Beweis in Gestalt eines in einen Ziegelstein geritzten Namens für seine These, dass der angebliche märkische Jakobiner reaktionärer Staatsdiener ist.

 

Proteste gegen Zensur in der DDR

Dass die „Märkischen Forschungen“ in der DDR erscheinen konnten, obwohl sie sich mit verstellter Stimme kritisch über das Leben der oberen Zehntausend im Arbeiter-und Bauernstaat mokieren, ist erstaunlich. Interessant zu wissen wäre, welche Kämpfe es im Hintergrund gab, dass diese sich viel mit der preußischen Vergangenheit, mehr aber noch den geisttötenden Verhältnissen unter Ulbricht und Honecker beschäftigende „Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte“, so der Untertitel, an der Zensur vorbei als Buch erscheinen konnte. Der Verfasser war ein wortmächtiger Kritiker des Systems, er verweigerte den ihm zugedachten Nationalpreis, den  Professor Menzel wie selbstverständlich aus der Hand von Walter Ulbricht samt fetter Geldprämie entgegen genommen hatte. Bekannt ist, dass de Bruyn gegen Ende der DDR mit anderen Künstlern und Schriftstellern gegen die Unterdrückung des freien Wortes in der DDR auf Schriftstellerkongressen protestiert hat, was aber kaum an die Öffentlichkeit gelangte. Das geschah in einer Zeit, als das Honecker- und Mielkesystem schon wankte.

Angeblich gab es in der DDR keine Zensur. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat  gab sich als weltoffen und modern aus und behauptete, das ganze Land stehe „wie ein Mann“ hinter der Führung. Das war natürlich kompletter Unsinn, denn die Gängelung und Überwachung der Medien sowie der Schriftsteller und Künstler erfolgte ebenso subtil wie brutal rund um die Uhr. Die SED, die Regierung und die Staatssicherheit taten alles, dass unbotmäßige Gedanken sowie missliebige und Filme zu unterdrücken. Für die auf den Index verbannten Filme gab es sogar speziellen Begriff „Kaninchen- oder Kellerfilme“, benannt nach dem Streifen „Das Kaninchen bin ich“ (Regie: Kurt Maetzig), in dem es um „staatsgefährdende Hetze“ sowie Strafjustiz und Rechtsbeugung in der DDR und um Sanktionen gegen unangepasste DDR-Bürger geht.

 

Erbe in guten Händen

Entgegen der Verfassung sicherten sich SED und Staat mit der Erteilung oder Verweigerung von Druckgenehmigungen, noch vor dem Erscheinen eines Textes oder Films zu prüfen und gegebenenfalls  Änderungen zu verlangen. Immer wieder kam es vor, dass auch bekannte Autoren ihre Arbeiten „verbessern“ mussten. Manche haben das getan, andere zogen es vor, ihre Bücher im Westen zu publizieren und nahmen schwere Sanktionen in Kauf. Wer konnte, verließ das angebliche Arbeiterparadies. Ob Änderungen auch im Fall der „Märkischen Forschungen“ verlangt wurden, könnten, wenn überhaupt, nur Nachforschungen in Archiven und den Unterlagen von Günter de Bruyn ergeben. Befragen kann man den 2020 in Bad Saarow verstorbenen Autor leider nicht mehr.

Die Günter-de-Bruyn-Stiftung in  Beeskow (Landkreis Oder-Spree) kümmert sich um das Erbe des Schriftstellers. Mit Hilfe des Landkreises, des Landes Brandenburg und des Bundes wird die Forschungsbibliothek mit Schwerpunkt 18./19. Jahrhundert inventarisiert und eine möglichst vollständige Bibliographie erstellt. Im Mai 2025 erhielt die Stiftung von der Stadt Beeskow ein denkmalgerecht saniertes Fachwerkhaus in der Altstadt als Anlaufstelle und Geschäftsstelle übergeben. Ab 2026 sollen zum 100. Geburtstag von de Bruyn das Archiv und schulbibliothekarisch für die wissenschaftliche Arbeit und politische Vorhaben zur Verfügung stehen.

 

17. August 2025