Verdammt in alle Ewigkeit
Stalin radierte unliebsame Genossen aus, doch auch die „Damnatio memoriae“ wurde in der Antike und in „1984“ praktiziert
Das Foto mit Stalin auf der Balustrade des Lenin-Mausoleums am Roten Platz in Moskau zeigt etliche Personen, die Stalin entweder liquidieren ließ oder die wie Trotzki ins Ausland geflohen waren. Bei der Retusche des Fotos mit Stalin und Jeschow war einige Kunstfertigkeit nötig, damit die Veränderungen nicht auffallen.
Die Sesterzen lassen nicht erkennen, dass die Kaiser Nero (links Kopf mit abgeschlagener Nase) und Caligula blutrünstige Despoten war, weshalb über sie der Fluch des Vergessens verhängt wurde.
Das im Besitz der Berliner Antikensammlung befindliche Rundbild zeigt Kaiser Septimius Severus, seine Frau und seine Söhne. Der später ermordete und verdammte Kaisers Geta ist auf dem Tondo getilgt.
Die Münzen des 1634 in Eger von seinen eigenen Leuten ermordeten Albrecht von Wallenstein, hier ein Taler von 1632 mit seinem Wappen als Herzog von Mecklenburg.
Die Abneigung vieler Engländer gegen das von Oliver Cromwell verkörperte strenge puritanische Regime macht es dem Haus Stuart leicht, nach seinem Tod die Monarchie wiederherzustellen. Die niederländische Karikatur verhöhnt den Lordprotektor als Seiltänzer, der jederzeit abstürzen kann. Cromwell nahm die ihm vom Parlament angetragene Königswürde nicht an, seine Münzen aber zeigen das gekrönte Landeswappen, als würde es die Republik nicht geben.
Revolutionäre plündern und schänden die Gräber der französischen Könige in der Abtei Saint Denis nordöstlich von Paris. Das am 1. August 1793 vom Nationalkonvent erlassene Dekret verfügte über die „Insignien des Feudalismus“: „Die in der Kirche von Saint-Denis, in Tempeln und an anderen Stätten auf dem gesamten Gebiet der Republik errichteten Grabmäler und Mausoleen der vormaligen Könige sollen am kommenden 10. August zerstört werden.“ Im übrigen Europa hat man den Akt als barbarisch verurteilt.
Von Stalins Denkmälern quer durch die Sowjetunion und den Ostblock ist nicht viel übrig geblieben, leider aber erlebt der Stalinismus mit neuen Leuten seine Wiedergeburt.
Fotos/Repros: Caspar
Es kam in der Vergangenheit nicht selten vor, dass blutbesudelte Potentaten und solche, die einen Krieg verloren haben und auf andere in „Verschiss“ geratene Personen der „Damnatio memoriae“ verfielen. So hat man schon in der Antike Statuen, Reliefs und Bauinschriften zerstört, die Herrscher ehren, an die sich nun niemand mehr erinnern sollte, ja die es eigentlich „nie“gegeben hat. Sofern man Münzen mit ihrem Porträt nicht eingezogen und eingeschmolzen hat, um aus ihnen neues Geld herzustellen, hat man wenigstens die Bildnisse zerkratzt oder abgeschliffen. Nachdem sich Kaiser Nero im Jahr 69 nach Christus das Leben genommen hatte, hat man seine Porträtbüsten entweder zerstört oder in das Bildnis einer anderen Person umgewandelt. Ob man massenhaft auch seine Münzen vernichtet hat, kann nicht gesagt werden, denn es blieben viele erhalten und werden vom Münzhandel angeboten. Die vom Senat in Rom über Kaiser Commodus ausgesprochene „Verdammung des Andenkens“ wurde von Septimius Severus, einem seiner Nachfolger, aufgehoben. In den Genuss einer späteren Rehabilitierung kamen andere Despoten wie Caligula, Commodus, Domitian und Geta nicht. Ob sich die Römer scheuten, mit dem Geld eines Geächteten zu zahlen, könnte, wenn überhaupt, die Sichtung schriftlicher Quellen ergeben. Da die in Rom und an anderen Orten geprägten Münzen der Kaiser und ihrer Familienangehörigen überall im Reich kursierten, werden viele Leute nicht gewusst haben, dass sie „vergiftetes“ Geld in der Hand halten.
Wallensteins Tod in Eger
Nachdem der Emporkömmling aus dem böhmischen Adel stammende kaiserliche Feldherr und kurzzeitige Herzog von Mecklenburg 1634 in Eger vermutlich mit Wissen und Duldung von Kaiser Ferdinand II. ermordet worden war, haben die nach Mecklenburg zurück gekehrten Herzöge die Reformen aus der kurzen Wallenstein-Ära aufgehoben und auch die im Auftrag des ihnen so verhassten Thronräubers errichteten Bauten einreißen lassen. Sie befahlen auch, die im Land kursierenden Münzen mit Wallensteins Bildnis und Wappen einzusammeln und einzuschmelzen. Daher sind die ursprünglich in großen Stückzahlen geprägten Wallenstein-Münzen selten.
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts folgte in England eine Staatskrise auf die andere. König Karl I. machte sich auf vielfältige Weise unbeliebt. Nicht nur dass er die Katholiken im Land begünstigte und die Puritaner massiv unterdrückte. Er versuchte mit allen Mitteln, das Parlament auszuschalten und ein absolutistisches Regime nach französischem Vorbild aufzurichten. Dagegen wehrten sich die Untertanen Seiner Majestät. Viele wanderten aus und siedelten sich in den englischen Kolonien im fernen Amerika an, andere schlossen sich zum Widerstand zusammen. Radikale Kräfte unter den Abgeordneten ließen sich die Entmachtung des Parlaments nicht gefallen, und so tobte von 1642 bis 1646 in England ein Bürgerkrieg. In ihm stand sich die Mehrheit des Adels mit dem König an der Spitze der von den Handelsstädten, allen voran London, unterstützten Parlamentspartei gegenüber. Aus dem handfesten Machtkampf gingen der König und seine Anhänger als Verlierer hervor. Nach einem Prozess endete Karl I. Anfang 1649 in London unter dem Beil des Henkers.
Rache am Königsmörder
Neuer starker Mann im nunmehr republikanischen England war der 1599 geborene Landedelmann Oliver Cromwell. 1653 legte sich der Organisator des militärischen Widerstandes legte den Titel Lordprotektor von England, Schottland und Irland zu. Bis zu seinem Tod im Jahre 1658 setzte er wichtige Reformen zur Reorganisation der Innen- und Außenwirtschaft durch und führte mit den Niederlanden einen Seekrieg um die Vormachtstellung auf den Meeren. In dieser Zeit entwickelt sich England zur führenden protestantischen Macht in Europa. Nach Cromwells Tod wurde die Monarchie 1660 wiederhergestellt. Der neue König Karl II. verfolgte alle, die mit dem bisherigen Regime kooperiert haben, und setzte alles daran, das Andenken an den verhassten „Königsmörder“ und seine Anhänger auszulöschen und auch die unter Cromwell geprägten Münzen aus dem Verkehr zu ziehen. Niemand wagte, mit ihnen zu bezahlen, manche aber hoben sie als Andenken an schwierige Zeiten auf. Cromwells Leichnam wurde aus dem Sarg entfernt und zur allgemeinen Abschreckung und Warnung öffentlich an einen Galgen aufgehängt.
Blutig war das Ende des französischen Königs Ludwig XVI. und seiner aus Österreich stammenden Gemahlin Marie Antoinette. Nach einem vergeblichen Fluchtversuch, der Gefangennahme und einem spektakulären Prozess wurden der König am 21. Januar und die Königin am 16. Oktober 1793 mit der Guillotine enthauptet. Das Volk brach in Jubel aus, als man ihm die angeschlagenen Köpfe zeigte. Viele, die da begeistert schrien, ereilte schon bald das gleiche Schicksal. Aus der Zeit der französischen Revolution nach 1789 ist überliefert, wie der Mob durch die Kathedralen und Paläste des verhassten Ancien régimes zog und Heiligenfiguren und Herrscherstatuen als Monumente der vergangenen Kirchen- und Königsherrschaft stürzte sowie Gemälde, Bücher und Möbel, ja ganze Schlösser vernichtete. Bronzene Standbilder wurden vom Sockel gestoßen und in Kanonen umgegossen. Erst als bereits vieles vernichtet war, kamen einsichtige Leute zur Besinnung, sammelten die Überbleibsel und riefen zur Besonnenheit auf. Solche Bilderstürmereien hatten das Ziel, unliebsame Personen, Ideen und Religionen aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen und eigene Interessen und Weltanschauungen durchzusetzen. Wie wir wissen, ist dieses Ziel in der Regel nur unzureichend erreicht worden. Oft genug erlebten Ideologien wie aktuell der Nationalsozialismus und Kommunismus nach Jahren des Schweigens eine unheimliche, jedoch heftig bekämpfte Wiedergeburt.
In Frankreich verfiel der 1815 auf die Insel Sankt Helena deportierte Kaiser Napoleon I. n i c h t der Damnatio memoriae. Im Gegenteil erfreut sich der Herrscher, der Hunderttausende auf den Schlachtfeldern seiner Kriege verbluten ließ, zuhause großer Verehrung, während man ihn anderswo kritischer sieht. Mit seinem Neffen Napoleon III. ging man weniger sanft um, denn ihn hat man auf unzähligen Spottschriften und Karikaturen „madig“ gemacht und auch Spottmünzen in der Art von kupfernen Zehn-Centimes-Stücken mit preußischer Pickelhaube verbreitet. Aus dem Gedächtnis konnte der glücklose Kaiser der Franzosen nicht getilgt werden, denn die Geschichtswissenschaft will wissen, wie es 1870 zum Sturz des Zweiten Kaiserreichs kam und welche Rolle Napoleon III. bei seinem eigenen Untergang spielte.
Unliebsame Genossen, retuschierte Fotos
Stalins blutiger Helfer, Geheimdienstchef Nikolai Iwanowitsch Jeschow, fiel 1938 in Ungnade und wurde 1940 in Moskau erschossen. Zwischen 800 000 und 1,2 Millionen Tote gegen auf sein und damit Stalins Konto. Die Periode des Großen Terrors wird in Russland Jeschowschtschina (Jeschow-Zeit) bekannt. Indem Stalin seinen „besten Mann“ nach einem kurzen Prozess hinrichten und alle Fotos retuschieren ließ, die beide zeigen, schob er alle Mitschuld an den Massenmorden von sich und bezeichnete seinen ehemals besten Freund als den für sie Alleinverantwortlichen. Unter Stalin wurden Bilder von Genossen, die ihn kritisiert hatten und daher in Ungnade gefallen waren, retuschiert und verfälscht. Niemand sollte sich noch an Trotzki und andere so genannte Partei- und Volksfeinde erinnern. In diesem Sinne wurden auch Geschichts- und Schulbücher um- und neugeschrieben, in denen die geschichtliche Rolle von Stalin als weiser Erbauer der Sowjetunion und unerbittlicher Sieger über Hitlerdeutschland verherrlicht wurden. Stalin war 1953 kaum gestorben, da hat man an seinem Image gekratzt und bald auch seine vielen Denkmäler abgebaut.
Die Nationalsozialisten betrieben die Damnatio memoriae in ganz großem Stil. Sie begann mit der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz) am 10. Mai 1933 und in anderen Städten und endete in den Gaskammern und Krematorien ihrer Konzentrations- und Vernichtungslager. Jüdische Wissenschaftler, Maler, Musiker, Dichter, Schauspieler, Architekten und viele andere nicht in ihr rassistisches und völkisches Weltbild passende Personen wurden quasi unsichtbar gemacht und totgeschwiegen, und wenn ihre Erwähnung unumgänglich war, hat man sie mit hämischen Worten niedergemacht. In seiner Rachsucht ließ Hitler fast alle Kopien des Propagandafilms „Der Sieg des Glaubens“ vernichten, weil darin auch Bilder des 1934 auf seinen Befehl ermordeten SA-Führers Ernst Röhm zu sehen waren. Überdies hütete man sich, irgendwelche Bilder des zum Parteifeind abgestempelten Naziführers tilgen. Das galt auch für andere Weggefährten von Hitler, zu Unpersonen wurde. Das prominenteste Beispiel ist Hitlers 1941 ohne offiziellen Auftrag zu Friedensverhandlungen nach England geflogener Stellvertreter Rudolf Heß, der von den Nazi-Medien für geisteskrank erklärt wurde. Ähnlich verfuhr die SED-Führung in der DDR mit Genossen, die gegen die von Ulbricht und ab 1971 Honecker vorgegebene Parteilinie verstießen, Kritik an der Führung wagten und politische Kurskorrekturen verlangten.
Menschenfeindliche Zukunft
In seinem berühmten Roman „1984“ schaut der englische Schriftsteller George Orwell (Eric Arthur Blair) in eine menschenfeindliche Zukunft und schildert Verbrechen im totalen Überwachungsstaat, der einem das Herz gefrieren lässt. Das 1950 kurz vor Orwells Tod erschienene Buch spielt im fiktiven Land Ozeanien, in dem eine winzige Oberschicht mit Hilfe von ausgeklügelten Manipulations-, Terror- und Unterdrückungsmechanismen und skrupellosen Helfern und Denunzianten die Volksmassen in Angst, Schrecken und Unwissenheit hält. Öffentliche Hinrichtungen werden als Volksfeste gefeiert, Brutalität und Menschenverachtung sind allgegenwärtig, täglicher Terror ist Normalität.
Um das gleichgeschaltete Volk bei Laune und in Bewegung zu halten, werden Hasspredigten gegen imaginäre Feinde gerichtet. Sicherheitskräfte sind derweil unterwegs, um unerwünschte Gedanken aufzuspüren und staatsfeindliche Handlungen im Keim zu ersticken. Kinder werden angehalten, ihre Eltern auszuspionieren und an die Gedankenpolizei zu verraten. Wer sich dem allgegenwärtigen „Großen Bruder“ verweigert und das böse Spiel durchschaut lebt gefährlich, und manch einer verschwindet auf Nimmerwiedersehen, wird gehenkt oder vaporisiert, also verdampft.
Absichtlich werden im Land Ozeanien, in dem Zwangarbeitslager Lustlager und das Kriegsministerium Friedensministerium genannt werden, Begriffe wie Ehre, Gerechtigkeit, Moral, Internationalismus, Demokratie, Solidarität, Wissenschaft und Religion ausradiert. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung wird in Armut und Unwissenheit gehalten, mundtot gemacht und zur Dummheit verurteilt. Wer in Ozeanien einst Einfluss und Ansehen genoss und aus oft nichtigem Grund beim „Großen Bruder“ in Ungnade gefallen war, dessen Andenken wurde aus den Medien und den Geschichtsbüchern verbannt. Ganze Heerscharen von Schreibern und Druckern produzierten neue Bücher und Zeitungen, in denen die aktuellen Wendungen in der Politik und Propaganda verbreitet wurden. Obwohl die Versorgung mit dem Allernötigsten miserabel ist, hat man den Menschen weisgemacht, ihnen würde es an nichts fehlen. Wer in der DDR „1984“ las und das dort verbotene Buch weiter gab, bekam es mit der Justiz und der Stasi zu tun. Selbstverständlich wies Erich Mielke, der Chef des „Liebesministeriums“, alle Vergleiche mit seinem Unterdrückungs- und Spitzelimperium in Orwells Zukunftsroman weit von sich.
Im Orkus der Geschichte
Gehen wir Jahrhundert für Jahrhundert durch, dann finden wir immer wieder Beispiele für Personen, Bewegungen und Ideologien, die zeitweilig hochgejubelt und dann in den Boden gestampft wurden. Erinnert sei an die Wiedertäufer, die um 1534 in Münster ihr Unwesen trieben, an Aufstieg und Fall von Hitler und Stalin im vergangenen Jahrhundert und der Verdammung der SED-Führer Ulbricht und Honecker und anderer in ihren Glanzzeiten hoch gelobten Kommunisten, von denen man heute, wenn überhaupt, nur noch mit Verachtung spricht. Das tut auch das „offizielle“ Russland in Gestalt seines aktuellen Diktators Wladimir Putin, der seinem Vor-Vorgänger Michail Gorbatschow für denjenigen hält, der das von der Sowjetunion beherrschte Weltsystem zu Fall brachte, weshalb ihm, Putin, die Aufgabe zukommt, das Russische Reich in seinen alten Grenzen, koste es was es wolle, wiederherzustellen. Wenn Putin eines Tages „weg vom Fenster“ ist - wie werden seine Nachfolger von ihm sprechen? Parallelen dafür, wie schnell jemand im Orkus der Geschichte verschwindet, lassen sich unschwer finden.
4. Januar 2025