Das Massaker von Katyn
Stalin versuchte, in Nürnberg Informationen über die Ermordung polnischer „Volksfeinde“ vor 85 Jahren zu unterdrücken

Für Polen ist Katyn eine offene Wunde und ein ungesühntes Verbrechen. Deshalb sind Denkmäler wie hier auf dem Powązki-Militärfriedhof in Warschau wichtig.

Ein schlichtes Erinnerungs-Holzkreuz steht in Krakau.

Stalin ließ sich als großer Feldherr und Führer seines Landes in den Kommunismus feiern.

Die auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 zelebrierte Einigkeit war brüchig. Aber Churchill und Roosevelt hatten kein Interesse, Stalin auf Katyn anzusprechen und dadurch die Verhandlungen zu gefährden. Ähnlich war die westliche Zurückhaltung zu diesem Fall beim Hauptkriegsverbrecherprozess, der wenige Wochen später in Nürnberg begann.

Stalins Opfer waren Gegenstand der in Katyn von den Deutschen angeordneten Untersuchungen. Die Ergebnisse dürften dem Diktator nicht gefallen haben. Er hielt die Mordbefehle und weitere Dokumente unter Verschluss. Nur im Westen konnte man das Thema besprechen.
Repros/Foto: Caspar
Im April 1943 fanden deutsche Soldaten in der Nähe von Katyn bei Smolensk Massengräber mit den sterblichen Überresten von mehr als 4400 polnischen Offizieren, die drei Jahre zuvor erschossen worden waren. Die Nazi-Propaganda lastete das Verbrechen sofort der Sowjetunion an, was aber von ihr vehement bestritten wurde. Stalin, der zwischen August 1939 und Juni 1941 noch Hitlers „bester Freund“ und mit ihm durch einen Nichtangriffspakt verbunden war, stand als Massenmörder da. Nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses 1945/6 drehte die Sowjetunion den Spieß um und schob das Massaker den Deutschen in die Schuhe.
Da der Massenmord vor nunmehr 85 Jahren einen Schatten auf die Sowjetunion als eine der Mächte der Anti-Hitler-Koalition warf, haben die Ankläger der anderen Siegerstaaten das ihnen unangenehme Thema auf sowjetischen Druck beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946/47 nicht weiter verfolgt. Später, als Kalter Krieg war und sich beide Militärsysteme feindlich gegenüber standen und jederzeit ein Dritter Weltkrieg ausbrechen konnte, kam das Thema im Westen wieder auf den Tisch, während es im von der Sowjetunion beherrschten Osten jahrzehntelang wie andere Verbrechen der Stalinära totgeschwiegen wurde.
Differenzen zwischen Moskau und London
Untersuchungen in Katyn an 928 Leichen ergaben, dass die Opfer polnische Offiziere sind, die 1939 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und im Frühjahr 1940 durch Genickschüsse ermordet worden waren. Die deutsche Regierung schlug vor, die Gräber durch eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes untersuchen zu lassen. Die polnische Exilregierung in London, die sich bisher vergeblich bemüht hatte, das Schicksal der kriegsgefangenen Offiziere und Soldaten aufzuklären, forderte ebenfalls eine neutrale Untersuchung, was die Sowjetregierung mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen beantwortete.
Da das Rote Kreuz den Vorschlag ablehnte, berief das Deutsche Reich eine Kommission von 13 Ärzten aus verbündeten und besetzten Ländern und der Schweiz. Die von ihnen vorgenommenen Exhumierungen und Obduktionen bestätigten die deutschen Vermutungen. Weitere Beweismittel waren bei den Leichen gefundenen Papiere, aber auch Aussagen von Einwohnern in der Gegend. Drei Monate nachdem deutsche Truppen Katyn geräumt hatten, behauptete eine sowjetische Ärztekommission im Januar 1944, die Polen seien Ende 1941 von den Deutschen ermordet worden.
Geschichte eines Verbrechens
In seinem Buch Buch „Katyn – Geschichte eines Verbrechens“ (Verlag C.H.Beck München 2015) geht Thomas Urban auch der Frage nach, warum sich die Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg aus Rücksichtnahme gegenüber Stalin lange Zeit nur unwillig mit dem Massenmord unweit von Smolensk befasst haben, und er sieht Bigotterie im Verhalten der Briten und US-Amerikaner. Sowohl der britische Premierminister Churchill als auch US-Präsident Roosevelt hätten sich für Realpolitik entschieden, denn die Anti-Hitler-Koalition sollte auf keinen Fall gefährdet werden, stellt Urban fest. Im kollektiven Gedächtnis der Polen werde dies bis heute als zynisch und unmoralisch gewertet, als Verrat, der dem noch größeren von Jalta vorausging, bei dem die beiden Lager – West und Ost - die Welt unter sich aufteilten.
Die vom Leiter der Aktion, Lawrenti Berija, als „eingeschworene Feinde der Sowjetmacht, erfüllt vom Hass auf das Sowjetsystem“ diffamierten Polen waren nach dem Massenmord in zuvor von Baggern ausgehobenen Gruben in mehreren Lagen übereinander verscharrt worden. Zuvor hatte man den zum Tod ohne Gerichtsverfahren verurteilten Gefangenen nahezu alle Wertsachen und Dokumente abgenommen, so dass später ihre Identifizierung auf große Schwierigkeiten stieß, aber nicht unmöglich war. Am Ort des Verbrechens wurde ein Denkmal zur Erinnerung an die Bluttat errichtet.
Gefundenes Fressen für Nazipropaganda
Das von Stalin und anderen hochrangigen Funktionären unterzeichnete Dokument für die Mordaktion wurde in einem Sonderarchiv des Zentralkomitees aufbewahrt. Es befand sich in einem versiegelten Umschlag in derselben Mappe wie das geheime Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt, das Polens Aufteilung zwischen Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion festlegte. Da auf dem Umschlag vermerkt war, dass es 1981 vom damaligen Staatschef Juri Andropow geöffnet wurde, nehmen Historiker an, dass auch weitere hohe Funktionäre Kenntnis von „Katyn“ hatten.
Der amerikanische Ankläger in Nürnberg, Robert H. Jackson, und eine Kommission des US-Kongresses erklärten 1952, die Sowjetregierung sei für die Morde verantwortlich, was von dieser als Verleumdung zurück gewiesen wurde. Erst 1990 räumte der sowjetische Präsident und Parteichef Michail Gorbatschow mit großem Bedauern ein, dass die polnischen Offiziere und Zivilisten tatsächlich vom sowjetischen Geheimdienst ermordet wurden.
Die Leichenfunde von Katyn waren für die Nazipropaganda ein gefundenes Fressen. Mehrere Wochen bestimmten sie die Schlagzeilen in den deutschen Zeitungen. Propagandaminister Joseph Goebbels ließ Texte mit erfundenen Details und überhöhten Opferzahlen sowie Plakate, Flugblätter, Filme und Radiosendungen herstellen. Am Beispiel von Katyn müsse „immer wieder auf das jüdisch-bolschewistische Mordbrennen“ und das „Werk jüdischer Schlächter“ hingewiesen werden, lautete die Parole des Tages. Juden hätten den Krieg zur Vernichtung der Deutschen provoziert, doch werde dieser Krieg mit ihrer Vernichtung enden.
Thema zum Tabu erklärt
Das Thema Katyn wurde im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zwar angesprochen, aber vom sowjetischen Ankläger Roman Rudenko abgewürgt. Er bezeichnete den Hitler-Stalin-Pakt als Fälschung. Unter dem Eindruck widersprüchlicher Aussagen der von der Sowjetunion aufgebotenen Zeugen setzte die amerikanische Seite durch, dass der Punkt fallen gelassen wurde. Die sowjetischen Massenmorde zu behandeln, hätte ungewollt der Nazipropaganda Recht gegeben. Die Sowjetunion war nicht interessiert, dass die Weltöffentlichkeit etwas über Ursachen und Ablauf des Massakers von Katyn und weiterer Mordaktionen erfährt, so wie auch der Stalinsche Terror unter der Decke gehalten wurde. In seiner auf dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau gehaltenen Rede „Über den Personenkult und seine Folgen“ deckte Parteichef Nikita Chruschtschow im Februar 1956 zwar die Verbrechen Stalins auf, erwähnte Katyn jedoch mit keinem Wort.
In der westlichen Geschichtsschreibung spielte der Fall immer eine Rolle, im Osten war er tabu, doch bestimmte auch er das seit dem 18. Jahrhundert angespannte Verhältnis zwischen Russen und Polen. Selbstverständlich wurde der Fall in der antisowjetischen Propaganda während des Kalten Krieges instrumentalisiert. Zudem konnten Alt- und Neonazis behaupten, auch andere deutschen Kommandos angelastete Verbrechen seien nicht diesen, sondern den Truppen Stalins zuzuschreiben oder hätten gar nicht stattgefunden.
Flugzeug mit polnischer Delegation abgestürzt
Im Zeichen der von Michail Gorbatschow initiierten Politik von Glasnost und Perestroika hat man sich in der Sowjetunion langsam dem Thema genähert. 1993 legte Boris Jelzin, Gorbatschows Nachfolger als Staatspräsident, vor dem Katyn-Kreuz auf dem Powązki-Friedhof in Warschau einen Kranz nieder und bat die Polen um Vergebung, „wenn ihr könnt.“ Am 22. Februar 1994 schlossen Russland und Polen ein Abkommen über die Gräber und Gedenkorte der Opfer von Krieg und Repression. Die russischen Behörden erleichterten polnischen Opferverbänden den Zugang zu Katyn.
1999 bis 2000 gestalteten beide Seiten gemeinsam die Gedenkstätte Katyn neu. Sie erinnert auch an sowjetische Opfer des Stalinismus und möchte damit auch zur Versöhnung von Polen und Russen beitragen. Polens damaliger Ministerpräsident Jerzy Buzek erklärte zum 60. Jahrestag des Massakers, Katyn sollte ein Symbol der gemeinsamen Erinnerung und Verpflichtung werden und helfen, einen schwierigen Teil der eigenen Geschichte zu bewältigen.
Zu einer Gedenkveranstaltung brach am 10. April 2010 eine polnische Delegation von Warschau mit dem Flugzeug nach Smolensk auf, das wohl aufgrund schlechter Sichtbedingungen abstürzte. An Bord der verunglückten Maschine waren sieben Besatzungsmitglieder und 89 Passagiere. Unter ihnen befanden sich neben Staatspräsident Lech Kaczyński und seiner Ehefrau Maria weitere polnische Repräsentanten und Hinterbliebene von Todesopfern. Da die Ursachen des Absturzes nicht geklärt werden konnten, kamen Verschwörungstheorien auf. Bis heute belasten der Massenmord von Katyn, aber auch jenes mit Sabotage in Verbindung gebrachte Flugzeugunglück sowie andere ungeklärte Fragen aus der langen polnischen und russischen Geschichte das Verhältnis zwischen beiden Ländern. Die Täter von damals sind schon lange tot, doch ihre Verbrechen sind unvergessen. Über Katyn sei noch nicht alles gesagt, erklärt Thomas Urban in seinem oben erwähnten Buch. Noch seien nicht alle Dokumente freigegeben, auch gebe es bei der Gesamtzahl der Toten weiterhin Fragen.
Nicht die einzigen Mordopfer
Die Toten von Katyn waren nicht die einzigen Polen, die auf das Konto von Stalins Geheimpolizei gingen. Am 3. März 1959 schrieb der damalige KGB-Vorsitzende Alexander Schelepin seinem Parteichef Nikita Chruschtschow, 1940 seien 21.857 Vertreter der polnischen Bourgeoisie erschossen worden, und zwar 4421 im Wald bei Katyn, 3820 bei Charkow, 6311 bei Kalinin sowie 7305 an weiteren Orten. Die Zahlen der getöteten „Volks- und Staatsfeinde“, so die sowjetische Diktion, gehen auseinander. Neuen Zahlen zufolge wurden von maximal 15.587 Ermordeten aus drei Gefangenenlagern bisher mindestens 14.542 aufgefunden und auch zumeist identifiziert. Es ist kaum anzunehmen, dass das von Putin beherrschte Russland große Mühe aufbringt, neues Licht in die alten Verbrechen zu werfen. Da Stalin nach langer Abstinenz wieder zu neuem Ansehen gelangt ist und auch in Büchern und Filmen als großer Führer und weises Oberhaupt seines Riesenreiches verherrlicht wird, hat Putin kein Interesse, dass man seinem „Bruder im Geiste“, wie Kritiker sagen, allzu nahe kommt.
11. April 2025