„Was würde Marx heute sagen?“
Oppositions-Manifest erschien 1978 im SPIEGEL / Film über die Stasi schildert Suche nach verbotenen Gedanken



Stasi-Minister Mielke und seine Leute haben überall ihre Augen und Ohren, und wo sie Opposition und Widerstand wittern, schlagen sie erbarmungslos zu.



Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler hört im Film „Das Leben der Anderen“ zu, was unangepasste Kulturschaffenden tun, und sorgt, von ihnen fasziniert, dafür, dass ein Stasi-Einsatz scheitert. Die Filmkritik war der Meinung, dass das Mitgefühl des Offiziers kaum glaubwürdig ist.



Wie der sowjetische Geheimdienst KGB verstand sich das Ministerium für Staatssicherheit als „Schild und Schwert der Partei“. Utensilien des Unterdrückungsapparat wie diese Handschellen und Knebelketten sind im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen ausgestellt.



Unter Stalins Stiefeln - hier zu sehen als Rest eines riesigen Denkmals in Budapest - und die seiner Handlanger litten nicht nur die Völker der Sowjetunion, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg Europas östliche Hälfte einschließlich der DDR. Die SED-Machthaber lösten sich ungern von ihrem Idol und blieben bis zum Schluss unverbesserliche Stalinisten.



Wer nicht nach der Pfeife eines Ulbricht und Honecker tanzte und das auch in Wort und Tat bekundete, landete in einem der vielen Gefängnisse der DDR – hier das Polizeigefängnis in der Berliner Keibelstraße.



Es dauerte nach dem „Manifest“ über 20 Jahre, bis die SED-Herrschaft bröckelte und wie ein Kartenhaus zusammen fiel. Orden, mit denen sich die Eliten wie schon zu Kaisers und Hitlers Zeiten, gegenseitig behängten, waren nur noch als Sammelstücke interessant. Ordensträger haben ihr „Blech“ nach 1990 im vereinigten Deutschland profitabel vermarktet.

Fotos/Repros: Caspar

Als das Hamburger Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL
im Januar 1978 in zwei Folgen das von oppositionellen SED-Genossen um Hermann von Berg verfasste „Manifest des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ veröffentlicht hatte, waren SED- und Staatschef Erich Honecker und die Staatssicherheit auf Höchste alarmiert. Sie belegten das als Zumutung und Provokation angesehene Dokument mit eisigem Schweigen, konnten aber nicht ganz verhindern, dass es auch im deutschen Osten bekannt wurde. Seine Thesen über die Gegenwart und Zukunft der DDR und der SED hatte Hermann von Berg dem Ost-Berliner SPIEGEL-Korrespondenten Ulrich Berg kurz vor Weihnachten 1977 in seinem Wohnzimmer diktiert. Als die systemkritischen Gedanken des Wirtschaftsprofessors an der Berliner Humboldt-Universität veröffentlicht wurden, haben die DDR-Behörden das Ost-Berliner SPIEGEL-Büro geschlossen. „Ihr Blatt hat in den letzten Monaten in ständig steigendem Maße die Deutsche Demokratische Republik und ihre Verbündeten böswillig verleumdet und vorsätzlich den Versuch unternommen, durch erfundene Nachrichten und Berichte die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zu vergiften“, teilte das DDR-Außenministerium dem Nachrichtenmagazin mit. Eine besondere Rolle sei dem offensichtlich vom SPIEGEL gemeinsam mit dem Bundesnachrichtendienst fabrizierten üblen Machwerk „Bruch in der SED“ zugedacht. In ihm würden in besonders infamer Weise das Staatsoberhaupt und andere führende Persönlichkeiten der DDR verleumdet. Das Ministerium sehe daher veranlasst, das Büro mit sofortiger Wirkung zu schließen. Es dauerte sieben Jahre, bis das Magazin ein Büro in Ost-Berlin eröffnen durfte, von der Stasi misstrauisch überwach.

Das Leben der Anderen
In dem Film von 2006 „Das Leben der Anderen“ wird gezeigt, wie die Staatssicherheit die Ost-Berliner Kulturszene beobachtet und wie unter konspirativen Bedingungen eine von Oppositionellen verfasste Analyse über die hohe Selbstmordrate im Arbeiter-und-Bauern-Staat in den Westen gelangt und anonym veröffentlicht wird. Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler, den Ulrich Mühe in dem 2007 mit einem „Oscar“ ausgezeichneten Film spielt, hat alles im Blick. Er fühlt sich von den als feindlich-negativ eingestuften Vorgängen ein paar Etagen unter seinem Beobachtungsstandort irgendwie angezogen. Er verrät, als es zur Haussuchung kommt, das Versteck der Schreibmaschine nicht, auf der die für die SED-Führung äußerst unangenehme Dokumentation getippt wurde. Die Stasi schreibt den Fehlschlag Wiesler zu und schiebt ihn in ihre Briefüberwachung ab. Kritiker des Films und Kenner der DDR meinen, es sei unvorstellbar, dass ein Stasi-Offizier seinen Auftrag sabotiert, weil er moralische Bedenken hat. In der vierzigjährigen Geschichte des DDR-Geheimdienstes gab es zwar Aussteiger und Überläufer, aber für Wieslers Sinneswandel gab es kein authentisches Vorbild.
Alles, was mit dem „Manifest“ ostdeutscher Kommunisten und ganz allgemein mit der Opposition zu tun hat, wurde von der Stasi „bis in die letzte Falte“, wie man damals sagte, durchschnüffelt. Wen Mielkes Geheimdienst als „feindlich-negativ“ ausmachte, der wurde bestraft. So erging es auch Hermann von Berg, der als Geheimdiplomat und Agent der Stasi-Hauptverwaltung A (HVA) allerbeste Kenntnisse über innere Vorgänge in der DDR hatte und voraus sah, dass sie eines Tages – und das war zehn Jahre später – kollabiert. Der Wirtschaftswissenschaftler wurde 1978 verhaftet und seines Postens an der Humboldt-Universität enthoben. Nachdem er 1985 illegal zwei Buchmanuskripte mit radikaler Kritik am Marxismus und der Wirtschaft der DDR einem Kölner Verlag übergeben und einen Ausreiseantrag gestellt hatte, wurde er nach Intervention westdeutscher Freunde in die Bundesrepublik ausgewiesen. Ihn wie andere Dissidenten in einem Zuchthaus vermodern zu lassen, dazu war er zu bekannt. Bis 1990 konnte er an der Universität Würzburg unterrichten, bis 1992 war er wieder an der Humboldt-Universität tätig.

Finger in die Wunden gelegt
Hermann von Berg und seine Mitstreiter legten mit drastischen Worten den Finger in die Wunden des SED-Staates. Sie kannten die Machtstrukturen und hatten ihre Ohren ganz dicht an den Massen, und sie sahen die Unterschiede zwischen dem, was die Propaganda tagtäglich verkündet, und der rauen Wirklichkeit ist. „Im ,realen Sozialismus' muss sich der machtlose Geist der geistlosen Macht beugen, ohne juristischen Schutz in Anspruch nehmen zu können.“ Das „Manifest“ fordert eine von lebensfremden ZK-Apparatschiks unabhängige Regierung, die Abschaffung des „demokratischen Zentralismus“ in Partei, Staat und Gesellschaft, weil er ein Zentralismus gegen die Demokratie ist. Ziel sei es, in ganz Deutschland auf eine demokratisch-kommunistische Ordnung hinzuwirken, „in der alle Menschenrechte für jeden Bürger voll verwirklicht sind nach dem Marx-Wort, dass man alle Umstände vernichten muss, unter denen der Mensch ein unterdrücktes, verächtliches, geknechtetes Wesen ist.“ Dass Kommunismus und Demokratie wie Feuer und Wasser sind und Lenin ein brutal agierender Machtmensch war, spielte in dem „Manifest“ kein Rolle. Es spricht sich für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von demokratischen Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten in Deutschland, Europa und der Welt aus und betont: „Lebten Marx, Engels, Lenin heute, blickten sie voller Abscheu auf das dogmatisierte heidnische Götzenbild, was man von diesen bemerkens- und liebenswerten Persönlichkeiten übriggelassen hat, und sie befänden sich heute, wie gehabt, in der West-Emigration - bei den EurokommunistAen.“

Kritik an der „Großen Subjektunion“
Über ihre Beweggründe, sich an den SPIEGEL zu wenden, betonen von Berg und Genossen: „Wir rechnen damit, dass sich auch gleichgesinnte Genossen in der BRD und in West-Berlin legal organisieren, um die Einheit der kommunistisch-demokratischen Kräfte in Deutschland herzustellen. Momentan haben wir begonnen, uns über Theorie und Praxis eines demokratischen Kommunismus zu verständigen. Unsere hektographierten Materialien bilden eine schwere Gefahr für die Genossen, falls sie in falsche Hände geraten. Daher wenden wir uns bewusst an ein liberales Magazin in der BRD, dessen kritische Haltung zu Ost und West gleichermaßen bekannt ist, um unsere Erwägungen gefahrloser zu verbreiten.“
Von der „Großen Subjektunion“, wie man in der DDR hinter vorgehaltenen Hand die Sowjetunion verspottete, hält das „Manifest“ wenig. Die Kritik von 1978 klingt fast so, als wäre das heute von Putin beherrschte Land gemeint. „Russland hat weder eine Reformation noch eine Aufklärung noch eine liberale Zivilisation kennengelernt. Partei und Staat der heutigen SU (Sowjetunion) sind dementsprechend geprägt. Eine theokratische Gesellschaft mit zum Teil vorchristlichen Mythen, mit großrussischem Nationalismus, mit einer antisemitischen, antidemokratischen, antinationalen Denk-, Sprach- und Verhaltensweise kann in Westeuropa nur Widerwillen erwecken. (...) Der Stalinismus war keine Entgleisung, er ist System. Stalinismus und Faschismus sind, unter staatsmonopolistischen Verhältnissen und geprägt vom Kampf um die Ausweitung der Macht, Zwillinge.“

Deutschland als Brücke zwischen Ost und West
Mit Blick auf das eigene Land heißt es an anderer Stelle: „Dieses Deutschland kann und muss eine Brücke zwischen Ost und West, ein friedensstabilisierender Faktor werden. Die Stichworte dazu lauten Abzug aller fremden Truppen im Gefolge der Entspannung, Austritt aus den Militärpakten, Friedensverträge mit beiden deutschen Staaten, Neutralitätsgarantie durch den Sicherheitsrat der UN, totale Abrüstung und Abführung der ersparten Rüstungskosten an die Vierte Welt, Assoziierung mit der EWG und dem RGW (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft West und Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Ost), Zulassung aller BRD- und DDR-Parteien in ganz Deutschland, freie, geheime Wahlen zur Nationalversammlung, Ausarbeitung einer Verfassung, stufenweise Rechtsangleichung in allen gesellschaftlichen Bereichen.“ Gefordert werden ein ungehinderter Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD und die Abschaffung aller überflüssigen Zoll- und Kontrollformalitäten.
Das Manifest fragt besorgt, wozu die DDR gemessen an der BRD einen achtfach höher besetzten Polizei- und Sicherheitsapparat braucht, „wo doch jeder täglich im ND (Neues Deutschland) lesen kann, wie sehr das Volk die Obermotzen liebt? Wozu braucht die DDR ein Heer von Journalisten, die alle genau das wiedergeben, was Lülas (Lügen-Lamberz, SED Spottname für Werner Lamberz, Mitglied des SED-Politbüros zuständig für die DDR-Medien) Agitkommission per Fernschreiber dekretiert? Und ein Heer von ML-Leuten (Marxismus-Leninismus) vom Kindergarten bis zur Hochschule, die alle das gleiche lebensfremde Dogma sülzen?“

Privilegien und Ordensblech für Schmarotzer
Hermann von Berg antwortet: „Keine herrschende Klasse Deutschlands hat jemals so schmarotzt und sich jemals so gegen das Volk gesichert wie jene zwei Dutzend Familien, die unser Land als einen Selbstbedienungsladen handhaben. Keine hat sich derart exzessiv goldene Gettos in die Wälder bauen lassen, die festungsgleich bewacht sind. Keine hat sich derart schamlos in Sonderläden und Privatimporten aus dem Westen, durch Ordensblech, Prämien und Sonderkliniken, Renten und Geschenke so korrumpiert und bereichert wie diese Kaste.“ Die selbsternannten Führer hätten nie eine Idee gehabt, ein Buch oder wenigstens einen Artikel allein geschrieben und hätten auf irgendeinem Fachgebiet nichts zustande gebracht. „Nein, sie beschäftigen Persönliche Referenten und Institute mit der Fabrikation ihrer Bleiwüsten, genannt Reden, in denen nur die Gedankenlosigkeit entlarvend blüht in einem Stil, den Lenin gezwungenermaßen vor russischen Analphabeten gebrauchen mußte und der noch heute sklavisch nachgeahmt wird.“ Die Politbürokraten seien krankhaft eitel, heißt es im „Manifest“, das die Hoffnung ausspricht, dass die Machwerke der Arschkriecher und Speichellecker eines Tages eingestampft werden.
Die in großen Teilen kirchlich geprägte und aus Umweltgruppen bestehende Opposition in der DDR ließ sich nicht auf Dauer unterdrücken. Der freie Geist konnte nicht mundtot gemacht werden, mochte die Staatssicherheit wüten wie sie wollte. Mit dem Mut der Verzweiflung begehrten Menschen in einem Staat „mit absoluter Rechtsunsicherheit, in dem die nackte Willkür regiert“ auf, wie es im „Manifest“ heißt. „Wann verhaftet man die Rechtsbrecher? Wann beruft das Parlament das Staatsoberhaupt wegen Bruchs der Verfassung und des Amtseides ab? Wann bestraft das Oberste Gericht das Politbüro wegen willkürlichen Menschenhandels, 50.000 Westmark pro freigelassenen Kritiker?“. Hermann von Berg und seine Mitstreiter fragen mit Blick auf den Menschenhandel, mit dem deutsche Potentaten vor 200 Jahren viel Geld scheffelten und den Schiller in seinem Drama „Kabale und Liebe“ als unmenschlich verurteilte: „Schreiben wir das 18. Jahrhundert? Befinden wir uns an einem Fürstenhof in Hessen? Gibt es neben einem Klassiker Marx nicht auch noch einen deutschen Klassiker Schiller, der den Verkauf von Landeskindern gegeißelt hat?“ Nein, so lautet das Facit, die Lage ist anders, und der Tag wird nicht weit sein, dass sie sich grundlegend ändert. Bis dahin aber mussten viele DDR-Bewohner durch ein Tal der Tränen gehen, was allerdings heutige Nostalgiker, die sich eine DDR minus SED-Politbürokratie, aber plus Reisefreiheit wünschen, gern übersehen.

28. Februar 2025