Der Weg nach Auschwitz
Mit den Nürnberger Gesetzen erreichte vor 90 Jahren die Entrechtung der Juden einen weiteren Höhepunkt



Am 15. September 1935 wurden die Nürnberger Rassegesetze verkündet. Bis Herbst 1938 wanderten etwa 170 000 Juden aus.



Der Boykott vom 1. April 1933 richtete sich gegen jüdische Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte.



Viele Juden wurden in der so genannten Reichskristallnacht am 9. November 1938 verhaftet und ermordet. Synagogen wie hier in Hannover und Geschäfte gingen in Flammen auf. Foto: Historisches Museum Hannover



Die Hetze gegen „Juden als Christusmörder“ ist uralt und gipfelte in Ausgrenzung, Verfolgung und Mord. Die Grafik zeigt, wie ein Henkersknecht den Scheiterhaufen mit Juden darin befeuert.



Die Postkarte aus der Kaiserzeit verhöhnt Juden als Tiere mit menschlichen Gesichtern, die vom deutschen Michel in einer Menagerie vorgeführt gesperrte Juden als Tiere.



Weitere Maßnahmen zur Diskriminierung der Juden bestanden in der Einführung von Kennkarten und Reisepässen mit einem aufgedruckten „J“. Außerdem mussten sich männliche Juden Israel und Frauen Sara nennen.



Allein im Vernichtungslager Auschwitz wurden eine Million Jüdinnen und Juden und ihre Kinder ermordet. Alt- und Neonazis leugnen den Holocaust und müssen mit Strafe rechnen.

Fotos/Repros: Caspar

Unmittelbar nach der Errichtung der Nazidiktatur
am 30. Januar 1933 begann im Deutschen Reich die systematische Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Es verging kein Tag, an dem nicht massiv gegen sie gehetzt wurde, weil sie nicht in das rassistische Weltbild der neuen Herrn in den braunen Hemden passten. Hitler wurde nicht müde zu behaupten, die Juden seien die „ewigen Parasiten, Schmarotzer und Bazillen“, und wenn man ihnen nicht den Nährboden entzieht, würde das deutsche „Wirtsvolk“ über kurz oder lang absterben. Die Juden seien an allem Unglück in dieser Welt schuld, und es gebe eine Verschwörung der Juden und Bolschewisten, die man mit aller Härte bekämpfen muss. Geschickt wussten die Nazis den seit Jahrhunderten vorhandenen Antisemitismus bei den Deutschen zu schüren. So genannte Arier profitierten von der Ausgrenzung und Entrechtung der Juden, indem sie ihre Posten übernahmen oder sich ihren Besitz, Wohnungen, Geschäfte und Betriebe aneigneten. Bereits am 1. April 1933 wurden von Nazifunktionären und SA-Leuten die ersten Boykott- und Gewaltakte gegenüber jüdischen Bürgern und ihr Eigentum organisiert. Am 10. Mai 1933 schleuderten braune Horden Bücher jüdischer und anderer „missliebiger“ Autoren in die Scheiterhaufen, und es begann die „Säuberung“ der Universitäten, Bibliotheken und Buchhandlungen. Nach und nach wurden nichtarische Beamte und Angestellte, wie man sagte, aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Jüdischen Ärzten, Künstlern, Schriftstellern und anderen zu „Volksfeinden“ erklärten Personen erhielten Berufsverbot. Dagegen zu klagen war zwecklos, denn was mit ihnen geschah, war formal „deutsches Recht“. Zahllose Juden und andere „Fremdvölkische“ wurden in die Konzentrationslager in Dachau bei München, Sachsenhausen bei Oranienburg, Buchenwald bei Weimar und andere Orte verschleppt und kamen dort ums Leben.

Aus dem Gefängnis ins KZ
Die während des Nürnberger Parteitags der NSDAP verabschiedeten Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 ebneten der massiven Entrechtung der jüdischen Bevölkerung den Weg, der in Theresienstadt und Auschwitz endete. Das vor 90 Jahren erlassene Reichsbürgergesetz unterschied zwischen vollberechtigten Reichsbürgern und Menschen jüdischen Glaubens oder Abstammung, denen die staatsbürgerlichen Rechte abgesprochen wurden. Verboten waren bei schwerer Strafe Ehen zwischen Juden und Nichtjuden sowie außerehelicher Verkehr zwischen Juden und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“. Zahlreiche Gerichtsverfahren wegen so genannter Rassenschande waren die Folge der Nürnberger Gesetze und weiterer Verordnungen. Wer aus dem Gefängnis freigelassen wurde, konnte aufgrund eines weiteren Sondergesetzes ins Konzentrationslager verschleppt werden. „Gemischten“ Ehepaaren wurde die Scheidung nahegelegt, ihre Kinder und Nachkommen waren als Halb- und Vierteljuden wie ihre Eltern ihrer Rechte beraubt.
Bei dem von den Nazis als „Reichskristallnacht“ verniedlichten Pogrom vom 9. November 1938 wurden zahlreiche Synagogen und andere Einrichtungen der jüdischen Gemeinden niedergebrannt. Tausende Juden wurden in die Konzentrationslager geworfen, dort drangsaliert und ermordet. Als so genannte Sühneleistung wurde der jüdischen Bevölkerung eine Geldstrafe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Wer noch konnte, emigrierte unter Zurücklassung seines Besitzes, vielen Juden gelang jedoch die Flucht nicht mehr. Mit einer Folge von Erlassen haben die Nationalsozialisten vor und nach dem Pogrom die als rassisch minderwertig eingestuften Personen zu einem unwürdigen Außenseiterdasein verurteilt.

Arbeit verloren und ohne Wahlrecht
Jüdische Ärzte und Rechtsanwälte waren als so genannte Krankenbehandler beziehungsweise Konsulenten nur noch für Juden zuständig.Das am 7. April 1933 erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bedeutete Arbeitsverbot für Juden, weitere Gesetze und Verordnungen entzogen „Nichtariern“, z. B. Künstlern und Schriftstellern, jegliche berufliche Tätigkeit. Juden und so genannte Mischlinge durften kein öffentliches Amt ausüben und besaßen auch nicht das Wahlrecht. Ihnen wurde der Besitz von Radios verboten, sie durften keine Bibliotheken und Kinos besuchen, selbst die Haltung von Haustieren war untersagt. Wer gegen die Verbote verstieß, kam ins Konzentrationslager, und das bedeutete für viele Menschen den Tod. Da manche Juden vermögend waren, wurden ihnen Geld- und Sachwerte sowie Kunstgegenstände geraubt. Außerdem wurden jüdische Betriebe zur „Arisierung“ freigegeben.
Bereits im Mittelalter mussten Juden bestimmte Zeichen tragen, um sie als solche erkennen und vom gesellschaftlichen Leben ausschließen zu können. Am 23. Juni 1938 wurde die Kennkarte mit dem diskriminierenden Aufdruck J für Juden eingeführt, vergleichbar mit dem Z für Zigeuner, also Sinti und Roma. Es folgte am 17. August 1938 die Pflicht für Juden, ihren Namen mit dem Zusatz Israel beziehungsweise Sara zu ergänzen. Ab 1. September 1941 mussten sie einen Stern aus gelbem Stoff gut sichtbar auf der Kleidung tragen. In Polen galt diese Vorschrift bereits seit dem Überfall am 1. September 1939. Wer den Stern nicht trug oder verdeckte und dabei erwischt wurde, kam unweigerlich ins Konzentrations- oder Vernichtungslager.

Als die Synagogen brannten
Nach und nach wurde alles verboten, was Juden das Leben noch einigermaßen erträglich gemacht hatte. Sie mussten ihre Wohnungen verlassen und in so genannte Judenhäuser ziehen, wurden zur Abgabe von Radioapparaten und Schreibmaschinen gezwungen, durften keine Zeitungen mehr kaufen, und auch die Mitgliedschaft in Sport- und Musikvereinen war für sie verboten. Jüdische Kinder durften nicht mehr an „deutschen“ Schulen lernen, und Erwachsenen war der Besuch von Restaurants, Kinos und Theatern untersagt. Auch beim Kauf von Lebensmitteln waren sie benachteiligt. Sie konnten weder Milch, Schokolade und Reis noch Schuhe und Kleidung kaufen und wurden verpflichtet, Kleidungsstücke bei den Behörden abzugeben. Nicht einmal das Halten von Haustieren war ihnen erlaubt. Wer sich widersetzte, kam ins Konzentrationslager.
In Berlin und dem ganzen Deutschen Reich brannten am 9. November 1938 die Synagogen. Viele Gotteshäuser wurden zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Schlägerbanden zerstörten jüdische Geschäfte und ermordeten deren Inhaber und Mitarbeiter. Offizieller Auslöser für den antijüdischen Gewaltakt war das Attentat des aus Hannover stammenden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 auf Ernst vom Rath, der als Legationsrat an der deutschen Botschaft in Paris Dienst tat. In der damaligen Presse war nur von spontaner Demonstration und Vergeltung auf den Anschlag in Paris die Rede.
Der Tod des Diplomaten wurde von den Nationalsozialisten sofort als Ausdruck einer jüdischen Weltverschwörung ausgeschlachtet und weitete sich zu einem von ganz oben, also mit Hitlers Wissen und Billigung, angestachelten Gewaltakt aus, wie es ihn in Deutschland so noch nie gegeben hat. In seinem Tagebuch zitierte Goebbels Hitler so: „Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu spüren bekommen“ und fügte hinzu: „Ich gebe die entsprechenden Anweisungen an Polizei und Partei. (...) Nun wird das Volk handeln. Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer wieder alle hoch. Diesen feigen Mord dürfen wir nicht unbeantwortet lassen“. In der Pogromnacht drangen Partei- und SA-Schläger mit Äxten, Brechstangen, Hämmern, Messern, Schusswaffen, Fackeln und anderen Gegenständen deutschlandweit in Synagogen und andere jüdische Einrichtungen ein, steckten die Gebäude in Brand, zerschlugen Türen und Fenster und raubten, was ihnen in die Finger kam.

Abwarten, bis es zu spät war
In seinem Erinnerungsbuch „Mein Leben“ (Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1999) beschreibt der bekannte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, wie manche Juden ihre Lage in Nazideutschland missdeutet haben. „Bei dem feierlichen Abendessen in unserer Wohnung waren beide Ansichten zu hören. Auch wenn die Brutalität und die offensichtliche Rechtlosigkeit der debattierten Vorgänge alle entsetzen, wurde die neuesten Nachrichten keineswegs nur pessimistisch kommentiert – also nicht nur als Zeichen der Grausamkeit des Regimes, sondern auch seiner Schwäche. Wer es für richtig und möglich hielt, ungeachtet aller Diskriminierungen doch in Deutschland zu bleiben, wer also hoffte, es ließe sich das ,Dritte Reich' an Ort und Stelle überleben, der sah sich in der barbarischen Auseinandersetzung Hitlers mit der Opposition in den eigenen Reihen die Bestätigung seines Optimismus.“ Von heute her gesehen sei es zumindest verwunderlich, schreibt Reich-Ranicki weiter, dass die Zahl der Juden, die Deutschland verließen, mit den Jahren trotz der systematischen Verfolgung, trotz einer so ungeheuerlichen Maßnahme, wie es die Nürnberger Gesetze im September 1935 waren, keineswegs zunahmen. Sie hofften, dass der Druck auf sie abnimmt und warteten erst einmal ab, bis es zu spät und die Flucht aus Nazideutschland nicht mehr möglich war. Während der Wannsee-Konferenz einigten sich hohe Beamte und Parteifunktionäre am 20. Januar 1942 in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin über die so genannte Endlösung der Judenfrage. Mit dieser Tarnbezeichnung war nichts anderes gemeint als Deportation und Massenmord an den Juden, die im Deutschen Reich sowie in den von der Wehrmacht besetzten Ländern leben. Das Todesurteil liest sich in der kalten Bürokratensprache so: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dm Osten getreten.(..) Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen elf Millionen Juden in Betracht.“ Ziel war die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung in allen von Deutschland beherrschen Ländern, um sie außerhalb der Reichsgrenzen zu ermorden. Insgesamt wird die Zahl der Opfer des Holocausts mit sechs Millionen Juden sowie einer halben Million Sinti und Roma angegeben.

22. April 2025