Viele Täter kamen davon - Vor 80 Jahren begannen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die für das Völkerrecht neue Maßstäbe setzten



Hermann Göring gebärdete sich vor dem Kriegsverbrechertribunal als verfolgte Unschuld und entzog sich am 15. Oktober 1946 in seiner Zelle dem Galgen durch Selbstmord. Der Karikaturist David Low zeichnete den ehemaligen Reichsmarschall als Angeklagter im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.

  

Berichte über das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal und die nachfolgenden Prozesse gingen 1945/46 um die Welt und öffneten vielen Menschen die Augen über das, was Hitler, Göring (vorn im Bild) und ihresgleichen getan haben.



Nur Albert Speer gab sich vor Gericht so etwas wie reumütig. Er behauptete, von Kriegsverbrechen nichts gewusst zu haben und sei als „Idealist“ Hitler gefolgt. Der Architekt und Rüstungsminister kam mit 20 Jahren Zuchthaus davon und endete nicht am Galgen, wie es das Foto aus dem zeitweilig vom US-Militär geleiteten Zuchthaus Landsberg zeigt.



Geistige Brandstifter und Judenhasser wurden nach 1945 kaum belangt. Streng verboten ist bei uns, den Massenmord an den Juden und weiteren, nicht ins rassistische und völkische Weltbild der Nationalsozialisten passenden Menschen zu leugnen.



Allein im Vernichtungslager Auschwitz, hier das Tor mit der Inschrift ARBEIT MACHT FREI, wurden eine Million jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet.

Repros: Caspar

Hitler, Himmler, Goebbels
und andere hohe Naziführer konnten vor 80 Jahren nicht vor das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal gestellt werden, denn sie hatten sich ihren Richtern durch Selbstmord entzogen. Aber andere blutbefleckte Politiker, Militärs, Diplomaten, Juristen, Polizisten und Wirtschaftsführer wurden am 20. Oktober 1945 und in weiteren Verfahren vor Gericht gestellt, zu Zuchthais oder auch zum Tod verurteilt und hingerichtet. Bis 1945 gab es keine Strafverfahren für Kriegsverbrecher, eigentlich waren sie auch nicht vorgesehen, denn die Verantwortlichen sollten kurzerhand und ohne Prozess erschossen werden. Den Kriegstreibern und -verbrechern eine faire Verhandlung mit Richtern und Verteidigern zu gewähren, war ein Novum im Völkerstrafrecht und setzte bis heute Maßstäbe. Allerdings konnten in den folgenden acht Jahrzehnten Verstöße gegen das Völkerrecht, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verhindert werden, wie wir am Beispiel des russischen Angriffskrieges und weiterer Kriege und Vertreibungen überall auf der Welt schmerzlich erlebt haben und erleben müssen. Nur in Ausnahmefällen wurden Drahtzieher und Profiteure gerichtlich belangt.

Untat-Arten von verwüstender Wirkung
In seiner Eröffnungsrede sprach der amerikanische Anklagevertreter Robert Jackson am 21. November 1945 diese Worte: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen. Sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat. (...) Niemals zuvor in der Geschichte des Rechts hat man versucht, in einem einzigen Prozess die Entwicklung eines Jahrzehnts zu behandeln, eine Entwicklung, die einen ganzen Erdteil, eine Reihe von Staaten und unzählige Einzelpersonen und Ereignisse umfasst. Da ein solches Unternehmen eine schwere Aufgabe darstellt, hat die Welt verlangt, dass sofort gehandelt werde.“
Richter Jackson zufolge enthalte die Anklageschrift „nicht einen Punkt, der nicht durch Bücher und Aufzeichnungen belegt werden kann. Die Deutschen waren von jeher peinlich genau in ihren Aktenaufzeichnungen, und die Angeklagten teilten durchaus die teutonische Leidenschaft für Gründlichkeit, Dinge zu Papier zu bringen. Auch waren sie nicht ohne Eitelkeit, und deshalb häufig darauf bedacht, dass das Bild ihr Tun bezeuge. Wir werden Ihnen ihre eigenen Filme zeigen. Sie werden ihr eigenes Gehaben beobachten und ihre eigene Stimme hören, wenn die Angeklagten Ihnen von der Leinwand her noch einmal einige Erlebnisse aus dem Verlauf der Verschwörung vorführen werden.“

Beweismittel wurden angezweifelt
Das ist dann auch geschehen, doch während Dokumente verlesen und Filme gezeigt wurden und Zeugen die Naziverbrechen oft unter Tränen schilderten, verdrehten die Angeklagten, die sich alle im Sinne der Anklage für „nicht schuldig“ bezeichnet hatten, nur die Augen und taten, als ginge der Prozess sie nichts an. Einige deutsche Strafverteidiger setzten die in den Zeugenstand gerufenen, sichtlich von überstandenen Qualen gezeichneten Männer und Frauen zermürbenden und ehrverletzenden Verhören aus. Sie bezweifelten den Wahrheitsgehalt der vorliegenden Beweismittel, sprachen von Siegerjustiz und behaupteten, das Gericht könne kein Recht sprechen über Dinge, für die es bis dahin keine Paragraphen gibt. In späteren Spielfilmen zum Thema „Nürnberg 1945/46“ wurden diese Szenen auf erschütternde Weise nachgespielt.
Bis 1945 gab es keine Strafverfahren gegen Kriegsverbrecher. Versuche, von einem Gericht die Schuld am Ersten Weltkrieg zu klären und Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, scheiterten, denn die Siegermächte hätten sich selber anklagen müssen. Zunächst war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Verfahren gegen die deutschen Kriegsverbbrecher nicht vorgesehen gewesen. Statt blinde Rache zu üben oder die Kriegsverbrechen zu vergessen, machten die USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien den wichtigsten Akteuren des NS-Regimes den Prozess. Ihnen eine faire Behandlung mit Richtern und Verteidigern zu gewähren, war ein Novum im Völkerstrafrecht. Dem Jahrhundertprozess von Nürnberg folgten weitere Verfahren, die ebenfalls mit Todes- und Zuchthausstrafen, aber auch mit Freisprüchen endeten. Sie richteten sich gegen Nazifunktionäre sowie Ärzte, die in den Konzentrationslagern mit Häftlingen experimentiert hatten, hohe Juristen und Beamte, die als Schreibtischtäter Schuld auf sich geladen hatten, ferner gegen das für die Konzentrationslager zuständige SS-Hauptamt und das Rasse- und Siedlungsamt der SS. Vor Gericht standen Wehrwirtschaftsführer sowie ehemalige Regierungsmitglieder, hohe Militärs und andere Naziverbrecher. Die letzten Todesurteile wurden am 7. Juni 1951 an sieben SS-Offizieren in Landberg am Lech vollstreckt.

Waldheimprozessen im Zeichen des Kalten Kriegs
Bei den so genannten Waldheimprozessen in der frühen DDR wurde 1950 vor dem Landgericht Chemnitz, von 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt, gegen 3442 Personen wegen Kriegs- und NS-Verbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt. Fast alle Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen von 15 bis 25 Jahren verurteilt, von 32 Todesurteilen wurden 24 vollstreckt. Von der SED angeleitet und überwacht, hatten die „Volksrichter“ die Aufgabe, keine Urteile unter fünf Jahren Zuchthaus auszusprechen und entlastende Argumente zu ignorieren. In der Regel nahm sich das Gericht pro Angeklagten nur wenige Minuten Zeit, um ein Urteil zu fällen. Einige klar als NS-Verbrecher identifizierten Personen hat man medienwirksam vorgeführt und verhört. Der jüngste Angeklagte war 14 Jahre alt.
Gerichtsverfahren und Urteile standen im Zeichen des Kalten Kriegs. Sie sollten beweisen, dass die DDR im Unterschied zur „imperialistischen“ Bundesrepublik Deutschland, wie es in der SED-Propaganda hieß, den Faschismus konsequent ausmerzt und Naziverbrecher gnadenlos zur Verantwortung zieht. Da im Westen die Rechtsstaatlichkeit der Waldheim-Prozesse und die Unabhängigkeit der Richter angezweifelt wurden, kamen bereits 1952 viele Verurteilte frei beziehungsweise wurde ihre Haftzeit herabgesetzt. Gegen einige Richter und Staatsanwälte der Waldheim-Prozesse fanden nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 Strafverfahren wegen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung statt, und manche seinerzeit im Zuchthaus Waldheim verurteilte Männer und Frauen erlangten ihre Rehabilitierung.

Von Einsicht und Reue keine Spur
Einsicht und Reue war in Nürnberg von den Angeklagten war nicht zu erwarten. Unter der Last der Dokumente und der Zeugenaussagen gebärdeten sie sich als ein Häufchen Elend, schalteten auf stur, täuschten Erinnerungslücken und Geistesschwäche vor. Der sichtlich abgemagerte Hermann Göring wies alle Schuld von sich auf andere und hoffte, irgendwie davon zu kommen. Als er als erster Todeskandidat genannt wurde, sackte Hitlers langjähriger Kumpan in sich zusammen. Ihm fehlte der Mut, mit den anderen aufs Schafott zu steigen. Irgendwie hatte es Göring geschafft, in der über einjährigen Untersuchungshaft Giftkapsel in einer Cremebüchse zu verbergen. Er nahm sie kurz vor der Urteilsvollstreckung zu sich, deshalb wurde sein Leichnam zu den Erhängten gelegt.
Einzig Hitlers Rüstungsminister und Lieblingsarchitekt Albert Speer bekannte so etwas wie „Mitschuld an den Ereignissen“, behauptete aber, von den Kriegsverbrechen nichts gewusst zu haben und selber an keinem beteiligt gewesen zu sein. Die unzähligen Zwangsarbeiter, die bei Speers Bauprojekten gequält wurden und verhungerten, waren in Nürnberg ebenso wenig Thema wie die Berliner Juden, die wegen der Baumaßnahmen in der „Reichshauptstadt Germania“ ihrer Wohnungen beraubt und in die Vernichtungslager deportiert wurden. Nach dem Ende seiner Haft in Spandau (1966) schrieb der „Gentleman-Nazi“, wie Speer manchmal genannt wurde, mit Hilfe alter Kameraden sowie seines Verlegers Wolf Jobst Siedler, des Historikers Joachim Fest und eines Teils der westdeutschen Medien an dieser Legende weiter. Mit seinen, die eigene Rolle im Nazireich klein redenden Memoiren verdiente er Millionen. Speer starb 1981 in London als reicher, von Alt- und Neonazis betrauerter Mann.

Weiße Westen und neue Karrieren
Im Westen kamen nach dem Krieg NS-Größen, wenn sie denn überhaupt vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, nach wenigen Jahren im Gefängnis wegen „guter Führung“ frei. Sie besorgten sich Persilscheine und weiße Westen und wurden Mitglieder der „guten Gesellschaft“. Das Klima hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland gewandelt; viele Menschen forderten einen Schlussstich unter der Vergangenheit und mutigen Blick nach vorn. Manche Leute machten ungeachtet ihrer braunen Vergangenheit in der Wirtschaft, Politik, im Bildungswesen, im Bereich der Medien und an anderen Orten Karriere.
Einer der Kommentatoren der berüchtigten Nürnberger Rassengesetze von 1935, der Jurist Hans Globke, brachte es als Staatssekretär zu einem engen Mitarbeiter von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Andere Ex-Nazis erlangten hohe Regierungsposten, wurden als Richter weiter beschäftigt, saßen in Geheimdiensten sowie akademischen, kommunalen und staatlichen Gremien. Kein Blutrichter aus Hitlers Zeiten musste sich wegen seiner Urteile verantworten. Nach langem, viel zu langem Zögern stellte das Bundesverfassungsgericht vor wenigem Jahren fest, dass Nazi-Juristen das Recht auf furchtbare Weise gebrochen haben. Manche waren der Meinung, was „damals“ Recht war, könne heute kein Unrecht sein. Mit der mangelhaften, zögerlichen Aufarbeitung der Vergangenheit luden sich die Deutschen eine zweite Schuld auf, die aber langsam durch intensive Forschung und Publizistik abgetragen wird.
Nicht angeklagt wurden Nazi- und Kriegsverbrecher, die sich aus dem Staub gemacht hatten oder wie Gustav Krupp, des Führers Waffenlieferant, aus angeblich gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht erscheinen mussten. Der Sohn des Waffenschmieds wurde später zu Gefängnis verurteilt, kam aber bald frei. Da und dort wurden NS-Verbrecher später aufgespürt und verurteilt. Spektakulär war der Fall Adolf Eichmann, der die Judentransporte in die Vernichtungslager organisierte. Nach seiner Entführung aus Argentinien wurde der ehemalige SS-Obersturmbannführer in einem Aufsehen erregenden Prozess in Jerusalem am 31. Mai 1961 hingerichtet. Vor und nach Eichmann konnten weitere im In- und Ausland dingfest gemachte Naziverbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Dolmetscher hatten viel zu tun
Im Nürnberger Justizpalast schlug 1945 die Stunde des Simultandolmetschens. Der logistische und personelle Aufwand, der im Interesse eines fairen Verfahrens beim Aufspüren von Dokumenten sowie bei der Übersetzung der Verhandlungen und der Verlesung der Dokumente in die russische, englische, französische und deutsche Sprache getrieben wurde, war enorm. Richter, Verteidiger, Angeklagte und Zeugen hatten bisweilen Mühe, einander zu verstehen und mussten immer wieder aufgefordert werden, sich klar, deutlich und langsam zu äußern. Ihnen standen zahlreiche Simultandolmetscher zur Seite, die sich einer von der Firma IBM für den Prozess entwickelten Simultananlage bedienten und alles übersetzen, was verhandelt wurde. Da manche Übersetzer zu den Holocaust-Überlebenden gehörten, war das Gehörte kaum zu ertragen und in andere Sprachen zu übersetzen.

23. November 2025