Spitzelberichte blieben liegen - SED-Führer befürchteten 1989 neuen 17. Juni 1952 und schlugen Warnungen in den Wind

Nur mit sowjetischer Hilfe und dem Einsatz des eigenen Militärs konnte der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin (Foto links) und anderen Städten der DDR niedergeschlagen werden. In Halle bekam das Händel-Denkmal ein Schild mit dem Spottvers „Spitzbart, Bauch und Brille ist nicht unser Wille“ umgehängt, womit Walter Ulbricht, Staatspräsident Wilhelm Pieck und Ministerpräsident Otto Grotewohl gemeint waren.

Im Ministerium für Staatssicherheit an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg konnten sich Mielke und Honecker sicher sein. Ob sie gesenkten Blicks bei der Abnahme der Ehrenfront daran dachten, dass ihre Tage bald gezählt sein werden?

„Klein Zack“, wie man Stasiminister Erich Mielke intern nannte, liebte Orden und kraftvolle Gesten. Widerspruch kam für ihn nicht infrage. Die Staatssicherheit der DDR empfand sich als Schild und Schwert der Partei und suchte alles niederzumachen, was sich ihr in den Weg stellt. Das Emblem des MfS ist nicht zufällig nach sowjetischem KGB-Vorbild gestaltet.

Unzählige Spitzelberichte und weitere Dokumente entgingen 1989/90 der Vernichtung, warten seit 35 Jahren zerrissen und zerschnipselt in Säcke verpackt auf ihre Auswertung. In den vergangenen 35 Jahren kamen ungeheuerliche Dinge ans Tageslicht, die alle DDR-Nostalgiker die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen müssten.

„Wir sind überall, wir müssen alles wissen, wir müssen auf alles vorbereitet sein“ war ein eiserner Grundsatz der DDR-Staatssicherheit. Demonstriert werden ihre Methoden der Informationsgewinnung und der Verhöre von so genannten feindlich-negativen Personen im Museum Runde Ecke , dem ehemaligen Sitz der MfS-Bezirksverwaltung in Leipzig.

Informationsbeschaffung mit Schnüffeltechnik aller Art, wie hier im Stasimuseum im Haus 1 des ehemaligen MfS an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg zu sehen, vor allem aber mit Hilfe eines Heers von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern (IM) nutzte wenig, weil sie sie die Lage nicht zu verbessern halfen.

Für die Vernehmer war es wichtig, von den Gefangenen Geständnisse zu erzwingen. Die von Stasileuten ausgearbeiteten und in geheimen Handbüchern fixierten Methoden reichten von Drohung und Erpressung, Schlafentzug und Hunger bis zur Einweisung unterirdische Hafträume, die heute in dem zur Gedenkstätte umgewandelte Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen offen stehen.
Fotos/Repros: Helmut Caspar
„Fröhlich sein und singen und immer tun, was die Partei verlangt“ – so hätten es Walter Ulbricht, Erich Honecker und ihre Genossen am liebsten gehabt. Und so wurde die DDR-Bevölkerung nach dem altrömischen Motto „Brot und Spiele“ mit einer Serie von Jugendfestivals, Arbeiterfestspielen, Sportspektakeln, Jubiläumsfeiern, Paraden und weiteren Großveranstaltungen in Atem gehalten und zu neuen Selbstverpflichtungen unter dem Motto „Mein Staat – mein Stolz“ aufgefordert. Bei allem echtem oder angeordnetem Jubel schwang im Hintergrund mit, dass das Kartenhaus DDR irgendwann zusammen krachen könnte.
Ungeachtet aller Heilsversprechungen und Visionen waren große Teile der DDR-Bevölkerung nicht bereit, an ein sorgenfreies Leben unter der Sonne des Sozialismus und Kommunismus zu glauben und der Partei auf den Fuß zu folgen. Wir machen uns heute keine Vorstellung, wie aufgeheizt vor über 35 Jahren die Stimmung in der SED-Führung und ihren bewaffneten Organen, wie man sagte, allen voran der Staatssicherheit war. Überall witterten sie Abweichler von der Parteilinie und so genannte feindlich-negative Elemente, die, angeblich vom Westen gesteuert, versuchen, das Leben in der schönen neuen Welt zwischen Elbe und Oder, Rügen und Erzgebirge zu stören und die Pläne ihrer Führung zu durchkreuzen. Honecker und Genossen steckte die Angst vor einem neuen „17. Juni“ in den Knochen, also vor einem neuen Volksaufstand, der am 17. Juni 1953 die DDR erschüttert hatte und nur mit Hilfe sowjetischer Panzer niedergewalzt werden konnte. Am 31. August 1989 fragte Stasi-Minister Erich Mielke seine zum Rapport einbestellten Generale und Oberste: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Worauf einer von ihnen antwortete: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“ Das klang angesichts der wachsenden Opposition nicht zuversichtlich. Zum Glück kam es nicht zu Panzerschlachten und Schusswechsel, wohl aber zu Massenverhaftungen und Knüppelattacken, mit denen jedoch der Zusammenbruch des SED- und Stasiregimes nicht aufgehalten werden konnte. Die SED-Propaganda nannte sie Rowdys und Faschisten und übersah wider besseren Wissens, dass aus Montagsdemos rund um die Leipziger Nikolaikirche eine das ganze Land erfassende Massenbewegung geworden war.
Angst vor Spionen und Saboteuren
Weit verbreitet war in der DDR die Angst vor Spionen und Saboteuren. Fast jeder konnte einer sein,m es genügte ein schiefer Blick, eine unpassende Frage oder verbotene Kontaktaufnahme mit Verwandten oder Freunden im Westen, um vor Gericht gestellt und verurteilt zu werden. Staatssicherheit. Polizei und Justiz suchten nach Hinweisen auf politisch instabile Personen, denen man unterstellte, Informationen, auch solche die frei zugänglich waren, in den Westen zu schleusen. „Ungesetzliche Kontaktaufnahme“ konnten schon einige Jahre Haft einbringen! So genannte Boykotthetze und Staatsverleumdung wurden in der DDR mit harten Strafen geahndet. Die Verfassung von 1949 stellte im Artikel 6 fest: „Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt. Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.“
Bereits kleinste Verstöße gegen die im Laufe der DDR-Geschichte weiter verschärften Bestimmungen, selbst die Lektüre vom Westen eingeschmuggelter Bücher wie George Orwells Roman „1984“ oder „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn wurden hart geahndet. Das galt auch für Verleumdung und Verächtlichmachung des Staates und seiner Repräsentanten sowie von Parteifunktionären. Schon harmlose Witze über Walter „Spitzbart“ Ulbricht und Genossen oder der Aufruf, Jubelfeiern fernzubleiben, konnte zur Verhaftung und Verurteilung zu Freiheitsstrafe führen. Massive Hetze gegen die Bundesrepublik und ihre Politiker und ganz allgemein gegen den Westen war von der Verfassung und den Strafgesetzen der DDR gedeckt, weil sie dem Klassenfeind galt, und dazu war jedes Mittel recht. So genannte feindlich-negative Person waren mit allen Mitteln unschädlich zu machen, wenn es sein musste auch durch Mordanschläge. In den Lehrbüchern und Anweisungen der Staatssicherheit war genau beschrieben, wie dabei vorzugehen ist und auch, wie verzweifelte und von ihren Familien und Freunden auf perfide Weise isolierte Menschen in den Selbstmord oder die Psychiatrie getrieben werden können. Indem so genannte Feinde bei deren Verwandten und Freunden als Stasi-Zuträger angeschwärzt wurden, standen sie von einem Tag allein mit ihren Fragen und Problemen da und hatten kaum jemand, der mit ihnen etwas zu tun haben wollten.
Einheit und Reinheit der Partei
Obwohl für die SED die Einheit und Reinheit in ihren Reihen über alles stand, gab es in der Staatspartei und der Staatssicherheit Machtmissbrauch, Intrigen und Rufmord, Doppelzüngigkeit, Karrierismus, Lug und Trug. Gleich nach dem Ende der SED-Herrschaft kamen ungeheuerliche Dinge wie die Ignoranz der Parteioberen über die Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung ans Tageslicht. In dem von der Bundeszentrale für politische Bildung als Band 250 ihrer Schriftenreihe von Matthias Judt herausgegeben Buch „DDR-Geschichte Dokumente“ (Berlin 1998) ist ein Abschnitt der Bekämpfung „verbrecherischen Elemente und Kriegsprovokateure“ gewidmet. Es ging nicht nur um die politische Säuberung des öffentlichen Lebens sowie von Hochschulen, Schulen und Kultureinrichtungen von ehemaligen Kriegsverbrechern, Nazis und Friedensfeinden, wie man sagte, sondern auch um die Niederhaltung der Opposition im Inneren. Anfang 1949 forderte der spätere Staatspräsident Willem Pieck die Verstärkung der Volkspolizei sowie der Justiz und Verwaltungsorgane und die Säuberung des Landes von Reaktionären, unter denen man alle und jeden verstand, denn es brauchte nicht viel, um dazu abgestempelt werden.
Offensichtlich gab es triftige Gründe, ständig an die Einheit und Sauberkeit in der SED und im Staatsapparat zu appellieren. Wenn es Unregelmäßigkeiten, Machtmissbrauch und Korruption, vor allem aber wenn es Bestrebungen gab, weg von der Kommandowirtschaft zu kommen und einen menschenfreundlichen Sozialismus zu etablieren, setzten die „führenden Genossen“, wie sie sich selber nannten, auf Repression und Terror. Sie hätten es allerdings auch leichter haben können, wenn sie auf die Zeichen an der Wand geachtet und auf die Stimme des Volkes gehört hätten. Veränderung im Dienste des Volkes aber war nicht ihre Sache, und wer sie forderte, wurde, was immer wieder vorkam, als Parteifeind abgestraft und kam ins Gefängnis.
Verweigerung der Wirklichkeit
Was ihre Untertanen dachten und forderten, war der Staats- und Parteispitze durchaus bekannt, genauer gesagt hätte ihr bekannt sein müssen. Die um korrekte Beschreibung der Lage bemühten Spitzelberichte des MfS füllten ganze Panzerschränke, aber sie wurden von den Instanzen ganz oben an der Befehlskette nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Da sie nicht in ihr Bild von der schönen neuen Welt des Sozialismus auf deutschem Boden, wie Honecker zu formulieren pflegten, blieben sie ungelesen liegen. Die Verweigerung der Wirklichkeit muss Mitarbeiter der nach dem 17. Juni 1953 gegründeten Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS furchtbar in Rage gebracht haben. Denn sie wussten ja, was im Lande vor sich geht, und fertigten geheime, nur für die Partei- und Staatsführung bestimmte Stimmungs- und Lageberichte sowie Einzelinformationen zu besonderen Vorkommnissen an. Auf Rückmeldungen und Lob warteten sie vergeblich.
Worüber die „Quellen“ informierten, wurden in Lageberichten zusammengefasst und „nach oben“ weitergeleitet. Die Diensteinheiten erstickten in Informationen, ihre Auswertung aber erfolgte mit den von der SED verordnet in Scheuklappen. Der riesige Beschaffungsapparat fühlte sich wie gelähmt, da kein Interesse an seinen Erkenntnissen bestand und in den Panzerschränken verschwand. Manchmal fragten in der Bundesrepublik Deutschland tätige „Kundschafter“, was denn mit ihren Berichten ist und ob man sie nicht ernst nimmt. Stasiminister Mielke nahm sie auf seine Weise ernst, denn er hat sie wohl aus Furcht, bei seinem Freund Honecker schlecht dazustehen, zensiert und geschönt. Er und die anderen Politbürokraten weigerten sich anzuerkennen, was klar am Tage liegt, und sie verdächtigten die Überbringer der unwillkommenen Botschaften sogar der Schwarzmalerei und Sabotage. Wenn Missstände registriert wurden, schob man sie unfähigen Leuten zu. In der beliebten, auch als Ventil für den Unmut im Volk dienende Satirezeitschrift „Eulenspiegel“ und zeitweilig in der Sendung „Prisma“ des unter strenger Kontrolle SED stehenden DDR-Fernsehens fand man Beispiele für „unsozialistisches“ Fehlverhalten, Faulheit und bürokratische Hemmnisse. Hin und wieder gab es Beifall, wenn Funktionäre in öffentlichen Reden besonders krasse Beispiele erwähnten, wobei sie nie die „Systemfrage“ zu stellen wagten. Wurden die Ansprachen veröffentlicht, dann war davon nichts zu lesen.
„Drecksäcke und miese Elemente“
Die von der Stasi gesammelten Missstände und die Folgen politischer Indoktrination, die 1989 einer Welle von Ausreiseanträgen bewirkten, wurden öffentlich nicht angesprochen. Dass Mielke sie kannte, lässt sich aus nach 1989/90 abgedruckten Sitzungsprotokollen etwa dort entnehmen, wo er seine Untergebenen anschnauzt, warum sie nichts gegen löcherige Klinikdächer unternehmen. m Übrigen schoben MfS und SED-Zentralkomitee einander die Schuld an Missständen und Unzufriedenheit zu, wie aus einem Disput im Hause Mielke am 31. August 1989 (als der Minister die Frage nach dem 17. Juni 1953 stellte) hervor geht. Da ging es unter anderem um Ausreiseanträgen von „Drecksäcken“ und „miesen Elementen“, wie Mielke formulierte. Wegen Personalmangels werde mit den Antragstellern nicht ordentlich gesprochen, also politisch auf sie eingewirkt, damit sie ihren Antrag zurück ziehen. Stasigeneral Siegfried Gehlert berichtete als Leiter der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), dass in einem Krankenhauszimmer 12 krebskranke Menschen liegen und nur ein Waschbecken haben. Das sei für das Jahr 1989 nicht mehr vertretbar. Der Abteilung Gesundheitswesen des ZK der SED sei das gemeldet. „Aber die haben unsere Information völlig ignoriert.“ Die Staatssicherheit habe informiert, und das nicht nur einmal. Erich Mielke ging nicht weiter auf den Fall ein, auf seinem Schreibtisch dürften sie sich gestapelt haben. Die Beschwerde dürfte nicht die einzige gewesen sein, die im Dickicht seiner Behörde verschwand.
Übrigens gab es in der DDR ein gut entwickeltes und genutztes Eingabewesen. Man konnte sich mit Beschwerden und Vorschlägen an den Staatsrat, die Regierung, das SED-Zentralkomitee und andere Instanzen wenden. Viele Leute taten das im Wissen, dass die Stasi mitliest und man Besuch von ihr oder der Polizei „zur Klärung eines Sachverhalts“ bekam. Solche Bürgerbeteiligung konnte,, wenn sie den Behörden und der Partei nicht behagte, zu dienstlichen Konsequenzen, Verhaftung und Gefängnisstrafe führen.
8. Oktober 2025