Mit „Glasklar“ in bessere Zeiten
Eine Fake-Ausgabe des NEUEN DEUTSCHLAND empfahl Honecker 1988, Michail Gorbatschow zu folgen

Das falsche ND wurde 1988 einer Tempo-Ausgabe beigelegt und erreichte viele Leser im deutschen Westen. Fieberhaft suchte die Staatssicherheit nach Exemplaren, die es in die DDR geschafft hatten. Das Magazin wurde auf ihre „Liste der Feindlichen Stellen und Kräfte im Operationsgebiet“ gesetzt.

Nach dem Motto „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“wurde alles, was von dort kam, in der DDR kritiklos übernommen. Erst als 1985 mit Michail Gorbatschow im „Lande Lenins“ neues Denken einzog und eine Abrechnung mit der stalinistischen Vergangenheit begann, setzte sich die SED-Propaganda deutlich vom „großen Bruder“ in Moskau ab.

Die im Neuen Deutschland – hier das Redaktions- und Verlagsgebäude am Franz-Mehring-Platz unweit des Ostbahnhofs – produzierte Blei- und Bilderwüste wurde von Journalisten und Lesern mehr oder minder offen mit Spott quittiert.

Das ND fleißig zu lesen und die dort veröffentlichten Beschlüsse und Direktiven der Partei ohne zu murren in die Tat umzusetzen, war für jede Genossin, jeden Genossen Pflicht, zumindest theoretisch. Keine noch so lächerliche Verlautbarung, kein noch so absurder Gedankenflug der „führenden Genossen“, kein Auftritt in der Öffentlichkeit und kein Parteitag, aber auch keine irgendwie als wichtig erachtete Verlautbarung aus Moskau, die nicht sofort im Zentralorgan veröffentlicht und von der SED-gelenkten Bezirkspresse nachgebetet worden wären.

Einer der besten Kenner der Materie und langjährige Chefredakteur des ND, Günter Schabowski, geht in seinem Buch „Der Absturz“ von 1990 mit der Hofberichterstattung im Parteiblatt und seiner eigenen Arbeit kritisch ins Gericht.

Honecker gab zu manchen offiziellen Verlautbarungen und Kommentaren seinen „Senf“ dazu wie diesen, und was er absonderte, musste wortwörtlich abgedruckt werden, auch wenn es größter Unsinn war.
Fotos/Repros: Caspar
Im März 1988 fielen der Stasi gefälschte Ausgaben des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ in die Hände, die in Interzonenzügen in die DDR geschmuggelt worden waren. Die von der Hamburger Zeitschrift Tempo hergestellte Ausgabe lobte den neuen „Glasklar-Kurs“ der SED und der DDR-Regierung, die sich dem Kurs von Glasnost und Perestroika des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow anzuschließen gewillt sind. Der Bericht und ein Offener Brief von Erich Honecker an Gorbatschow waren von A bis Z frei erfunden, denn eine „Wende“ des zweiten deutschen Staats in Richtung Demokratie und wahre Mitbestimmung des Volkes lag ganz und gar außerhalb jeder Vorstellung bei den alten Männern um den Partei- und Staatschef. Mit der Aktion wollte das mit Themen zwischen Konsum und Rebellion, Popkultur und Hochkultur befasste Lifestyle-Magazin die DDR ermuntern, sich endlich dem Kurs von Gorbatschow anzuschließen und frischen Wind in den Arbeiter-und-Bauern-Staat zu blasen.
Wer die Fake-Zeitung zu Gesicht bekam, und das dürften in der DDR nur Honecker und seine engsten Genossen und selbstverständlich wenige Leute von der Staatssicherheit gewesen sein, lasen mit wachsendem Entsetzen, was sich in der DDR ereignen wird - das ganze Gegenteil dessen, was bisher praktiziert wurde. Honecker sei entschlossen zum Umstieg auf den Glasklar-Kurs, Gorbatschow habe ihm dazu gratuliert, heißt es in dem gefälschten ND. „Seit den Beschlüssen des XII. außerordentlichen Parteitages vergeht kein Tag ohne einen umwälzendes Ereignis in unserem Land. Zuerst erhielten 5000 Häftlinge im Rahmen einer Amnestie ihre Freiheit und die vollen Bürgerrechte zurück. Dann erging an Künstler und Genossen, die in den Westen emigriert waren, die herzliche Einladung, in ihr sozialistisches Vaterland zurückzukehren.“ Die Volkskammer habe Gesetze verabschiedet, „welche die volle Pressefreiheit in geschriebenes Recht gießen. Die unbelehrbaren, an den alten Beschlüssen hartnäckig festhaltenden Politbüromitglieder Krenz, Tisch und Krolikowski wurden ihrer Ämter erhoben.“
Botschaften aus dem Westen nicht zu unterdrücken
Das war harter Tobak, das durfte nicht bekannt werden. Wer in der DDR mit dem falschen, nur als Satire und Versuchsballon gemeinten „Neuen Deutschland“ erwischt wurde, hatte mit schwerster Strafe zu rechnen, von jenen Genossen abgesehen, die sich beruflich mit solchen Medien befassen mussten. Wie Honecker und Co. reagiert haben, ist nicht bekannt. Sie dürften aber vor Wut geschäumt und alles getan haben, dass die „geistige Konterbande“ nicht bekannt wird. Das Westfernsehen und Radio sorgten aber dafür, dass die Botschaft im wahrhaft neuen Neuen Deutschland auch im deutschen Osten bekannt wurde.
Behauptet wird auf Seite 1 des Fake-ND vom März 1988, dass die SED unter Honeckers Führung nach Moskauer Vorbild mit dem Glasklar-Kurs die „Herzen der Massen“ erobern will. In einem fiktiven Interview sagt der Partei- und Staatschef, er werde für einen „liebenswerten Sozialismus“ sorgen. Die Spezialausgabe des ND wird in dem Buch von Burghard Ciesla und Dirk Külow „Zwischen den Zeilen – Geschichte der Zeitung ,Neues Deutschland'“ (Verlag Das Neue Berlin 2009; 256 Seiten, zahlr. Abb., 24,90 Euro, ISBN 978-3-360-01920-2) im Zusammenhang mit dem Besuch von Honecker im März 1987 in der Bundesrepublik Deutschland erwähnt. Die Autoren schildern, wie verheerend sich die ständigen Eingriffe der Parteichefs Ulbricht und Honecker und ihrer Handlanger im SED-Zentralkomitee und Presseamt der DDR auf die Arbeit der Redaktion und das Betriebsklima ausgewirkt haben. 1946 gegründet, erreichte das ND als Sprachrohr des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei täglich eine Auflage bis zwei Millionen Exemplare. 35 Jahre nach dem Ende der DDR findet das deutlich geschrumpfte Nachfolgeblatt „ND der Tag“ im linken Spektrum seine Leser.
Jenseits aller Wirklichkeit
Die im ND und zeitgleich in weiteren Tageszeitungen der DDR veröffentlichten Verlautbarungen hatten mit der Wirklichkeit im zweiten deutschen Staat wenig zu tun. Aufmachung, Texte, Bilder und Formulierungen wurden bis ins kleinste Detail im Zentralkomitee der SED und oft von Ulbricht und Honecker den Medien diktiert. Mit dieser von „ganz oben“ angeordneten Wort- und Bilderflut feierten sich Honecker& Co. jeden Tag neu. Vermutlich glaubten sie selber an die Statistiken und Erfolgsmeldungen, die sie in ihrer Giftküche zusammenbrauten. Es wird berichtet, dass sich der mächtigste Mann in der DDR , eitel wie er war, nur von vorn und der Seite fotografieren ließ. Seinen schon licht gewordenen Hinterkopf zu zeigen war strengstens verboten.
Wie tief bei Honecker die Angst vor Glasnost und Perestroika saß, zeigt das von ihm im November 1988 veranlasste Verbot des sowjetischen Monatsmagazins „Sputnik“, benannt nach dem piepsenden Satelliten, mit dem die Sowjetunion 1957 das Zeitalter der Weltraumforschung eröffnet hatte. Die deutsche Ausgabe wurde eifrig auch in der DDR gelesen. Doch als das bunte Journal nach 1985 immer mehr und ziemlich ungeschminkt über über Stalins Terror berichtete und sogar Vergleiche zwischen den Opfern seiner Diktatur und denen Hitlerdeutschlands anstellte, war für Honecker das Maß voll. Die neue Offenheit, die sein Idol, den sowjetischen Diktator Josef Stalin, in Verruf brachte und sein System der Massenerschießungen und Arbeitslager beschrieb, brachte den SED-Chef und Staatsratsvorsitzenden der DDR so in Rage, dass er persönlich und, wie später bekannt wurde, gegen den Rat aus seiner Umgebung den Vertrieb der deutschsprachigen Ausgabe 10/1988 unterband und fortan die Belieferung der Abonnenten mit dem beliebten Magazin einstellen ließ.
Alltäglicher Personenkult
Im Unterschied zur sonstigen Tagespresse der DDR verfügte das ND über bessere Papier- und Druckqualität, außerdem unterhielt die Redaktion ein Netz von Auslands- und Bezirkskorrespondenten sowie von so genannten Volkskorrespondenten, die Erfolgsmeldungen aus ihren Betrieben und Wohngebieten sowie über Wettbewerbsleistungen nach dem Motto „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei“ beisteuerten. Das ND und die Aktuelle Kamera des DDR-Fernsehens betrieben einen kaum zu überbietenden Personenkult erst um Ulbricht, dann um Honecker. Der Gipfel war, dass in der ND-Ausgabe vom 16. März 1987 anlässlich der Eröffnung der Leipziger Messe mehr als 40 stets gleich große Fotos mit Honecker im Mittelpunkt veröffentlicht wurden.
Er müsse sich vorwerfen, schrieb das ehemalige SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, „dass ich als Journalist zur geistigen Kastration durch Schönfärberei und Kritiklosigkeit beigetragen habe.“ Die Apologie-Sucht des Systems, die das Aufdecken und die öffentliche Erörterung von Schwierigkeiten verhinderte, habe wie der Teufel das Weihwasser gescheut. Eine spezifische Form der Information sei die Nichtinformation gewesen. In Kommentaren sei eine merkwürdige Art der Polemik praktiziert worden - das Schattenboxen mit gegnerischen Argumenten, die aber nicht genannt werden durften, angeblich weil man Meinungen des Gegners keine Bühne geben wollte. Ratsuchenden Lesern sei bedeutet worden, sie mögen zwischen den Zeilen lesen, so Schabowski, dem wir den erlösende Satz am 9. November 1989 verdanken, dass Ausreisen in den Westen „ab sofort“ möglich seien, worauf die Mauer fiel und das SED-Regime wie ein Kartenhaus in sich zusammen fiel. Honecker habe sich gebrüstet, dass es in der DDR keine Zensur gebe. Eine Zensur sei nicht nötig gewesen, weil er als Oberzensor häufig die Meldungen selber fabrizierte oder Informationstabus verhängte. „Das andere besorgten schon die Selbstzensur in den Köpfen und die zentrale ,Anleitung’, die sich täglich über die Redaktionen ergoss“, so Schabowski.
Warum das ND 15 Pfennig kostet
Selbstverständlich war die Liebedienerei Gegenstand bissiger Witze wie diesem: „Hannibal, Lord Nelson und Napoleon besuchen die Nationale Volksarmee. Dabei fragt der General, was sie von den Dingen, die sie gesehen haben, am liebsten hätten. Hannibal meint, die Panzer seien viel besser als seine Elefanten, Nelson glaubt, mit U-Booten hätte er noch mehr Schlachten gewonnen, und Napoleon stellt fest: Ich hätte gern das NEUE DEUTSCHLAND. Wenn ich es 1815 gehabt hätte, wüsste die Welt bis jetzt nicht, dass ich bei Waterloo verloren habe!“ Ein anderer Witz fragte, warum das Blatt 15 Pfennig kostet, wo doch die PRAWDA, das Zentralorgan der sowjetischen Kommunisten, nur 10 Pfennig kostet. Die Antwort lautete, beim ND kämen noch 5 Pfennig Übersetzungskosten hinzu, womit auf die vielen wörtlichen Übernahmen aus der sowjetischen Presse angespielt wurd. Ein auch im ND propagierter Slogan wurde in „Jeder macht was er kann, keiner macht was er soll, aber alle machen mit“ machte die Runde, und auch „Im Mittelpunkt steht der Mensch“ war eine schöne, aber nicht realisierbare Losung in der DDR. Je öfter diese eigentlich überflüssige, weil für ein sich Arbeiter-und-Bauern-Staat nennendes Gemeinwesen selbstverständliche Absichtserklärung beschworen wurde und auf Plakaten stand, umso schwieriger war es, sie in die Tat umzusetzen. Hätte man die Parole ernst genommen, dann hätte die DDR in einen wirklichen demokratischen Staat verwandelt und die Alleinherrschaft der SED einschließlich ihrer verlogenen Propaganda abgeschafft werden müssen.
23. Februar 2025