„Augen zu und Schwamm drüber“
Entnazifizierung ging nach 1945 in der alten Bundesrepublik nur schleppend voran

Im KZ Buchenwald und in anderen Stätten des Naziterrors mussten Menschen 1945 an Leichenbergen vorbei gehen. Alt- und Neonazis sahen in ihnen von den Siegermächten arrangierte Gruselszenen, denn „so etwas“ hätten Deutsche niemals getan. Schließlich lebe man im Land der Dichter und Denker und nicht in dem der Richter und Henker.

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und sich anschließende Verfahren zeigten eindrücklich und für alle Welt sichtbar, wie die Nationalsozialisten im eigenen Land und den okkupierten Ländern gewütet haben und wie große Teile der Deutschen in die Verbrechen involviert waren. Alt- und Neonazis sprachen von Siegerjustiz und zogen die Ergebnisse der Gerichtsverfahren und ihre Ergebnisse in Zweifel.

Soldaten der deutschen Wehrmacht waren wie die Einsatzgruppen der SS sowie Gestapoleute an schrecklichen Kriegsverbrechen beteiligt und setzten auch „hilfswillige“ Bewohner in den besetzten Ländern als Henker und Folterer ein. Bis in die Gegenwart hinein wurden Täter von damals ausfindig gemacht, vor Gericht gestellt und verurteilt.

Die amerikanische Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ von 1978 über die Verfolgung, Deportation und Ermordung von Millionen Juden erst im Deutschen Reich, dann in den von der Wehrmacht besetzten Ländern öffnete vielen Menschen die Augen.

Antisemitische, den Holocaust rechtfertigende Hetze im Film und die Verherrlichung von Hitler und seiner Diktatur waren nach dem Krieg kein Grund, dass Hitlers und Goebbels' Starregisseur Veit Harlan, der Produzent von „Der Ewige Jude“ Reichsfilmintendant Fritz Hippler, die Regisseurin von Propagandafilmen Leni Riefenstahl sowie viele andere Leute vom Film und Fernsehen, aber auch Publizisten und Journalisten in der Bundesrepublik weiter machen durften, als sei nichts geschehen.

In den Auschwitzprozessen kamen unfassbare Verbrechen in den Vernichtungslagern ans Tageslicht, die Angeklagten aber gaben sich, von ihren Anhängern mit Beifall bedacht, als verfolgte Unschuld und Opfer der Siegerjustiz aus.

Dass Fritz Bauer bei der Aufklärung von Naziverbrechen nicht immer das erreichte, was er aus seiner tiefen demokratischen Grundeinstellung anstrebte, macht ihn zu einer tragischen Figur der neueren deutschen Geschichte.
Repros: Caspar
Die Befreiung Deutschlands von der Ideologie des Nationalsozialismus gehörte nach 1945 zu den wichtigsten Zielen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Es gab zahlreiche Prozesse und mehr als vier Millionen Entnazifizierungsverfahren. Neben der Verurteilung einiger weniger Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg 1946 und in den Folgeprozessen konnten sich die allermeisten Helfer des Naziregimes zumindest im deutschen Westen über Milde nach dem Motto „Augen zu und Schwamm drüber“ freuen. Richter und Henker von damals, blutbesudelte Mediziner und Forscher, das Hitler-Regime verherrlichende Schreiber, Schauspieler und andere Helfer passten sich geschmeidig den neuen Verhältnissen an. „Mein Kampf' verbrannt, Hitler nicht gekannt“ war die Parole, als die Siegermächte die Deutschen auf den Prüfstand stellten.
Die politische Säuberung wurde in den vier Besatzungszonen und der Vier-Sektoren-Stadt Berlin unterschiedlich und oft nur unwillig gehandhabt. Zahlreiche Gesetze und Verordnungen sollten helfen, nationalsozialistischen Ungeist aus Köpfen, Bibliotheken, Schulen und dem öffentlichen Raum zu vertreiben. In Millionen Fragebögen ging es um die Zugehörigkeit zur NSDAP und ihren Gliederungen, zur SS, SA, Gestapo und Polizei, um den Dienst in der Wehrmacht und im Justizwesen und anderen Bereichen. In den drei westlichen Besatzungszonen fällten mehr oder weniger „belastete“ Juristen sowie Laienrichter in Spruchkammerverfahren ihre Urteile, und die meisten von ihnen wurden quasi mit Augenzwinkern beendet.
Persilschein verhalf zur weißen Weste
Grundlage der Entnazifizierung war das Kontrollratsgesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946. Es stufte die Deutschen in Hauptschuldige, Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete (Bewährungsgruppe), Mitläufer sowie Personen ein, die sich nichts zuschulden kommen ließen. Naziverbrecher der ersten beiden Gruppen konnten nach Anhörung von Be- und Entlastungszeugen zu Gefängnisstrafen oder Arbeitslager bestraft werden. Obwohl es viel mehr Hauptschuldige und Belastete gab, wurden nur 1,4 Prozent der Deutschen diesen Gruppen zugeordnet. Mehr als die Hälfte der Spruchkammerverfahren endete mit der Klassifizierung als Mitläufer. Wer als „unbedenklich“ eingestuft wurde, erhielt diese auch „Persilschein“ genannte Mitteilung: „Aufgrund der Angaben in Ihrem Meldebogen sind Sie von dem Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 nicht betroffen.“ Damit besaß man eine weiße Weste.
Als die westlichen Besatzungsmächte mitten im Kalten Krieg an einer konsequenten Strafverfolgung immer weniger interessiert waren, konnten Beschuldigte aufatmen. Die nun angewendeten Schnellverfahren nahmen es mit der Klärung von Schuld und Unschuld wenig genau. Wer es richtig anstellte, Fürsprecher hatte und eine Unbedenklichkeitserklärung besaß, konnte eine neue Karriere als angesehener Bürger starten. In seinem „Personenlexikon zum Dritten Reich“ (Edition Kramer Koblenz 2011, ISBN 978-3-9811483-4-3) hat Ernst Klee aufgelistet, wer diese Personen waren und was sie im deutschen Westen, aber auch vereinzelt im Osten taten. Ihrer Anstellung im öffentlichen Dienst sowie in der Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft und im Bereich der Medien stand nichts mehr im Wege.
Kriegsmärchen in Groschenheften
Als Mitwisser und Mittäter waren ehemalige Nazifunktionäre und Militärs gefragte Gesprächspartner im Radio, aber auch bald im Fernsehen sowie in der Presse jedweder Couleur. Im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL und anderen Zeitschriften plauderten sie über ihre Erlebnisse und gaben sich als verfolgte Unschuld aus. Rührselige Kriegsmärchen im Stil von „Er ging an meiner Seite“ und Groschenhefte schilderten das Soldatenleben im Zweiten Weltkrieg und verschwiegen, dass nicht nur die SS und Polizei, sondern auch Wehrmachtssoldaten Massenmorde begingen. Wer sie deswegen anprangerte, wurde in den Dreck gezogen. So erging es auch Angehörigen des Widerstands, die sich gegen das Hitlerregime auflehnten und vielfach ihr Leben lassen mussten. Während die ehemaligen Täter in neuen Positionen satt verdienten oder fette Pensionen bezogen, mussten die Hinterbliebenen der Verfolgten des Naziregimes mit wenigem Geld auskommen und sich zugleich als eidbrüchige Landesverräter beschimpfen lassen. Die so genannte Bewältigung der Vergangenheit fand im Wesentlichen in wissenschaftlichen Instituten statt, die von nazifreundlichen Kräften unseriöser Arbeit bezichtigt wurden. Wenn ab und zu die braune Vergangenheit inzwischen zu Rang und Ansehen gelangter Bundesbürger ans Tageslicht kam, war dies für einige Zeit ein öffentlicher Aufreger.
„Der Staat gegen Fritz Bauer“
Einer, der sich durch Hetze und Verleumdung nicht beeindrucken ließ, war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Vielfältige behördliche und gesellschaftliche Widerstände und eigene , dem braunem Ungeist erlegene Kollegen machten ihm das Leben und Arbeiten zur Qual. Das wechselvolle, von Höhenflügen und Niederlagen geprägte Leben des Richters und Staatsanwalts wurde 2015 unter dem Titel „Der Staat gegen Fritz Bauer“ in der Regie von Lars Kraume verfilmt. Der preisgekrönte Streifen schildert, wie es Bauer mit einigen mutigen Mitkämpfern gelingt, SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Argentinien aufzuspüren, so dass er in Israel vor Gericht gestellt und zum Tod verurteilt werden konnte. Den „Spediteur des Todes“ in der Bundesrepublik Deutschland anzuklagen und zu verurteilen, gelang Bauer hingegen wegen vielfältiger Widerstände nicht.
Fritz Bauer war die treibende Kraft bei der Entlarvung von SS-Angehörigen, die für Massenmorde in den von der Wehrmacht besetzten Ländern sowie den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Seine Hoffnung, die von ihm und anderen Juristen angestrengten Frankfurter Auschwitzprozesse werde zu einer Art Gerichtstag der deutschen Gesellschaft über sich selbst werden, ging nur teilweise in Erfüllung. Denn viele seiner Landsleute sahen bei sich keine Schuld, bezeichneten sich als Opfer ihrer Überzeugung, flüchteten sich in Befehlsnotstand und den Glauben an eine angeblich gerechte Sache. Indem sie einen „Schlussstrich“ unter Die Vergangenheit forderten, verschanzten sich Unbelehrbar hinter der Behauptung, was „damals“ Recht war, könne heute kein Unrecht sein.
Mord verjährt nicht
Um Nazimörder nicht ungeschoren davonkommen zu lassen, beschloss der Deutsche Bundestag 1979, dass Mord nicht verjährt. Nach einer weiteren Gesetzesänderung wurden Personen wegen Mordes oder Beihilfe verurteilt, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern auch an untergeordneter Stelle tätig waren. So konnten in den vergangenen Jahren noch hochbetagte SS-Angehörige zur Verantwortung gezogen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sah eine Fristenregelung im Strafgesetzbuch vor, dass Straftaten, „wenn sie mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht sind, in zwanzig Jahren" verjähren. Für Verbrechen, für die mehr als zehn Jahre Freiheitsstrafe vorgesehen waren, galt eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Deswegen drohten schwere Verbrechen wie Totschlagsdelikte und Beihilfe zum Mord bereits 1960 zu verjähren.
Die SPD-Bundestagsfraktion schlug 1960 eine Ausweitung des Beginns der Verjährungsfrist auf den 16. September 1949 vor. Fünf Jahre später drohten die bisher ungestraften Morddelikte der NS-Zeit zu verjähren. Die Debatte wurde kontrovers weiter geführt, bis der Bundestag 1979 beschloss, dass Mord nicht verjährt. Neu entdeckte Mordverbrechen aus der Nazizeit konnten ohne Blick auf Verjährungsfristen verfolgt werden. Jetzt war der Weg für weitere Verfahren gegen SS-Aufseher in Konzentrations- und Vernichtungslagern frei. Die DDR-Führung hatte bereits 1964 die Verjährung von Kriegs- und nationalsozialistischen Verbrechen ausgeschlossen.
18. Juni 2025