„Das Ja zur Einheit ist gesprochen“ - Vor 35 Jahren fiel die erste und einzige freie Volkskammerwahl in der Noch-DDR eindeutig aus

Die Parteien haben im Vorfeld der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 auf unterschiedliche Weise die Ostdeutschen auf neue Zeiten und die Wiedervereinigung eingestimmt. Der Zug in Richtung deutsche Einheit war nicht mehr aufzuhalten.

Als Erich und Margot Honecker ihren Stimmzettel zur Kommunalwahl am 7. Mai 1989 in die Urne warfen, stand das Ergebnis mit über 98 Prozent Zustimmung für die Kandidaten der Nationalen Front schon fest.

Nicht zuschauen, sondern den Karren tatkräftig aus dem Dreck ziehen, lautet die Botschaft einer Karikatur von Barbara Henniger.

Der Wahlkampf im Frühjahr 1990 in der DDR und die Debatten über das Für und Wider der deutschen Vereinigung trieb Millionen auf die Straße.

Im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden in Berlin werden Transparente gezeigt, die im Herbst 1989bei den Massendemonstrationen gegen das SED-Regime mitgeführt wurden.

Zu Jahrestagen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung gab die Bundesrepublik Deutschland diese Gedenkmünzen heraus.
Fotos/Repros: Caspar
Nur schleppend kamen Anfang Dezember 1989, knapp einen Monat nach der Grenzöffnung, die Untersuchungen über Amtsmissbrauch der bisherigen Machthaber, aber auch über die gewaltsamen „Zuführungen“ von regimekritischen Demonstranten in die Keller der Volkspolizei und der Staatssicherheit in Gang. Derweil wurden Geheimdienstakten vernichtet, nach Moskau verbracht oder in den Westen verscherbelt. Viele Mitarbeiter oder Zuträger der Staatssicherheit glaubten, ihr Tun würde nicht bekannt werden, doch manche irrten sich gewaltig, da nicht alles vernichtet wurde, und so erlebte der eine oder die andere tiefen Fall.
Wenig Interesse an Aufklärung
Der noch in der alten, von der SED dominierten Zusammensetzung tagenden Volkskammer lag ein langer Katalog von Verfehlungen der DDR-Prominenz vor. Die Liste reichte von komfortablen Wohnhäusern und Jagdschlössern, die auf Staatskosten gebaut und ausgestattet worden waren, bis zur Nutzung spezieller Läden und der Regierungsstaffel für private Flüge sowie Sonderzuwendungen und -läden für Spitzenpolitiker. Die Beteiligten hatten wenig Interesse an rückhaltloser Aufklärung, sie sahen sich als verfolgte Unschuld und sprachen von Siegerjustiz. Erich Honecker, der am 18. Oktober 1989 gestürzte Partei- und Staatschef, weigerte sich, über Einzelheiten zu sprechen, und auch andere Funktionäre hüllten sich in Schweigen. Stasi-General Wolfgang Schwanitz, der neue Leiter des in „Amt für nationale Sicherheit“ umbenannten, im wesentlichen aber noch intakten Mielke-Ministeriums behauptete, nichts über die Misshandlung von verhafteten Demonstranten sagen zu können, angeblich weil er von seinem Vorgänger nur „zwei leere Panzerschränke“ übernommen habe.
In dieser Situation wurden Forderungen von Vertretern des „Neuen Forum“ nach einem Generalstreik zur Durchsetzung freier Wahlen und zur konsequenten Demokratisierung laut. Außerdem sollte die Aktion die bisher unbefriedigende Aufklärung über Amtsmissbrauch, Korruption, Wahlbetrug und die Spitzeltätigkeit des Geheimdienstes beschleunigen. Doch der Plan fand sowohl in der Regierung Modrow (SED) als auch in den eigenen Reihen und in der Bevölkerung ein geringes Echo und wurde zurückgenommen. „In tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land“ forderten die Teilnehmer des ersten „Runden Tisches“ in Berlin am 7. Dezember 1989 die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation der DDR und verlangten, in Entscheidungen der Regierung einbezogen zu werden. Die Vertreter von 14 Parteien und Organisationen verstanden sich als „Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land“. Der Runde Tisch einigte sich auf den 6. Mai 1990 als Termin für freie Wahlen und kam überein, die Nachfolgeorganisation des Stasiministeriums aufzulösen.
Allianz für Deutschland siegreich
Es kam dann aber anders, denn die Volkskammerwahl fand schon am 18. März 1990, vor nunmehr 35 Jahren, statt. Die erste und einzige freie Abstimmung in der DDR fiel auf einen Tag voller Symbolik. Am 18. März 1848 begann in Berlin die Märzrevolution, die zeitweise die Herrschaft des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. und seiner Kamarilla zum Wanken brachte. Das Ergebnis der Volkskammerwahl war eindeutig. Von 12,4 Millionen Bürgerinnen und Bürgern des in Agonie gefallenen zweiten deutschen Staates hatten sich über 93 Prozent an der Wahl beteiligt. Als Siegerin ging mit 48,09 Prozent die „Allianz für Deutschland“ hervor.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas würdigte am 18. März 2025 im Deutschen Bundestag< die Bedeutung der ersten und einigen freien Wahl in der DDR. Blicke man heute auf die demokratische Euphorie von 1990 zurück, sehe man, wie Menschen für die Demokratie begeistert und fürs Mitmachen gewonnen werden könnten. Die SPD-Politikerin warb dafür, die Begeisterung von damals als Inspiration für die Herausforderungen der Gegenwart zu nutzen. Die Volkskammer-Abgeordneten hätten vor „gewaltigen Aufgaben“ gestanden. Die Euphorie und die Aufbruchsstimmung, die man mit 1989/90 verbinde, dürften jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle Hoffnungen erfüllt wurden. „Der wirtschaftliche Umbruch traf viele Menschen hart. Gewohnte Sicherheiten zerbrachen. Existenzängste bestimmten den Alltag. Hinzu kam bei manchen das Gefühl, nicht gehört zu werden. Das wirkt bis heute nach“, sagte Bas.
Regierung unter hohem Zeitdruck
Die meisten Wählerinnen und Wähler entschieden sich am 18. März 1990 für Parteien, die eine schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik wollten. Zum Ministerpräsidenten wählte die Volkskammer am 12. April 1990 Lothar de Maizière (CDU). Die aus CDU, DSU, DA, SPD und Bund Freier Demokraten, also einer Mischung von alten Blockparteien und neuen Parteien, gebildete Koalitionsregierung stand unter hohem Zeitdruck. „Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. [...] Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben“, sagte de Maizière.
Binnen kurzer Zeit mussten die Voraussetzungen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland geschaffen, die Verfassung geändert und vor allem brennende soziale und Wirtschaftsprobleme gelöst werden, deretwegen immer noch wöchentlich mehrere tausend Menschen nach Westdeutschland übersiedelten. Außerdem musste die neue Regierung nicht zuletzt die alten Herrschaftsstrukturen zerschlagen. In der nur sechsmonatigen Legislaturperiode verabschiedete die Volkskammer mehr als 150 Gesetze und fasste rund 100 Beschlüsse wie etwa die Schaffung der Währungs- und Wirtschaftsunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik. In der Nacht vom 22. auf den 23. August stimmte das im Berliner Palast der Republik tagende Parlament in einer Sondersitzung dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu. Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Wiedervereinigung in ganz Deutschland mit Festansprachen, Volksfesten und Feuerwerken gefeiert.
Schützenhilfe aus Bonn
Das Bündnis der ehemaligen DDR-Blockpartei CDU, der Deutschen Sozialen Union (DSU) und des Demokratisches Aufbruchs (DA) war, erhielt Schützenhilfe von Bundeskanzler Helmut Kohl und den Regierungsparteien in Bonn, mit dem klaren Ziel angetreten, die deutsche Einheit so schnell wie möglich herbeizuführen. Andere Parteien und Bürgerbewegungen verhielten sich zögerlich bis ablehnend und plädierten für ein längeres Nebeneinander beider Landesteile. Bemerkenswert ist, dass ungeachtet täglich neuer Enthüllungen über die Machenschaften der bisherigen Staatspartei und ihrer führenden Vertreter die Ergebnisse der PDS als Nachfolgerin der SED vergleichsweise hoch waren. Sie schwankten zwischen 30,2 % in Ost-Berlin sowie 22,4 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und 13,3 % in Sachsen und 11,2 % in Thüringen.
Abgestraft wurden am 18. März 1990 die Sozialdemokraten mit nur 21,8 Prozent Wählerstimmen. Sie hatten schon vor der „Wende“ ein Veto gegen die deutsche Vereinigung eingelegt und sich für die Anerkennung einer speziellen DDR-Staatsbürgerschaft ausgesprochen, was ihr die Sympathie von SED- und Staatschef Erich Honecker und die Verachtung von Bundeskanzler Kohl und seiner Parteifreunde eintrug. Führende Sozialdemokraten in der Bundesrepublik wie Oskar Lafontaine, damals saarländischer Ministerpräsident und später Chef der mit starken SED-PDS-Wurzeln behafteten Linken, sowie sein Parteikollege Johannes Rau, seines Zeichens Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und späterer Bundespräsident, hatten sich gegen eine schnelle Vereinigung ausgesprochen, was von der CDU als „Solidaritätsverrat“ gebrandmarkt wurde. Hätten die Saarländer 1957 so gehandelt, erklärte Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) wie Lafontaine jetzt die DDR-Bürger behandelt, wäre das Saarland heute kein Mitglied der Bundesrepublik geworden.
Im Frühjahr 1990 waren Vorstellungen vom Tisch, eine Konföderation der beiden deutschen Staaten herzustellen und die „Errungenschaften“ der DDR in die neue Zeit hinüber zu retten. Der Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989 hatte noch die tiefe Krise beschrieben, in der die DDR steckt. Er rief die Bevölkerung zum Neubeginn auf und warb für das Nebenherbestehen der beiden deutschen Staaten. „Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben. Die Führung einer Partei hatte sich die Herrschaft über das Volk und seine Vertretungen angemaßt, vom Stalinismus geprägte Strukturen hatten alle Lebensbereiche durchdrungen. Gewaltfrei durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozess der revolutionären Erneuerung erzwungen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.“
„Wir sind ein Volk“
Der Appell rief zur Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft in der DDR, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Die Alternative zur Eigenständigkeit der DDR sei die Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland, die aber abgelehnt wird. Deshalb endet der Aufruf so: „Lasst uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen“.
Dass sich einige in Misskredit geratene Vertreter des alten Regimes, allen voran Egon Krenz, und ehemals hochangesehene Ideologen wohlwollend über den Aufruf äußerten, tat seiner Wirkung Abbruch. Das Echo auf den von Bürgerrechtlern wie Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss sowie von Vertretern des Kultur- und Geisteslebens wie Stefan Heym, Walter Janka, Jutta Wachowiak und Christa Wolf unterzeichneten Aufruf war unterschiedlich. Es gab sowohl große Zustimmung als auch scharfe Ablehnung. Viele DDR-Bewohner hatten sich von „ihrem“ Staat abgewandt und waren für seine eigenständige Entwicklung der DDR innerhalb der Völkergemeinschaft nicht mehr zu haben. Aus dem Slogan „Wir sind das Volk“ aus den letzten Tagen der SED-Herrschaft wurde der Ruf „Wir sind ein Volk“.
18. März 2025