Welt von gestern - Kunstbibliothek am Berliner Kulturforum lädt zur Zeitreise ins alte Tiergartenviertel ein

Die Kunstbibliothek der Staatlichen Museen am Kulturforum zeigt in ihrem Foyer eine Ausstellung über das alte Tiergartenviertel. Viele Bewohner führten am Rand des Tiergartens ein sorgenfreies Leben. Sie sammelten alte und neue Kunst und ließen den Museen Teile ihrer Schätze zukommen.

Der Verleger und Kunsthändler Paul Cassierer wohnte von 1906 bis 1916 in der Margaretenstraße 1 mit Blick auf den Matthäikirchplatz, auf dem aktuell das Museum „Berlin modern“ entsteht.

Johanna und Eduard Arnhold besaßen eine bedeutende Kunstsammlung, die Berliner Museen verdanken ihnen großzügige Schenkungen.

Eine im Stil der Zwanziger Jahre gestaltete Schauwand ist der Bildhauerin Renée Sintenis und ihrem Mann Emil Rudolf Weiß gewidmet.

Im Zweiten Weltkrieg zerstört, wurde die aus der Kaiserzeit stammenden Häuser Tiergartenstraße 4 und 4 a wie die anderen Gebäude in dieser Gegend abgerissen, um Platz für das Kulturforum und die Philharmonie zu schaffen.
Fotos/Repros: Caspar
Die Gemäldegalerie, das Kunstgewebemuseum und andere Sammlungen, ferner die Kunstbibliothek und die Philharmonie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Fundamenten des vornehmen Tiergartenviertels errichtet. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem in der Kaiserzeit gebaut, gehörte es zu den elegantesten Wohn- und Geschäftsquartieren der Reichshauptstadt. Rund um die Matthäikirche entstanden Villen und prächtige Wohnhäuser. Die Bewohner ohne Geldsorgen verband die Leidenschaft für Kunst, Literatur, Musik und Mode. Die Kunstbibliothek der Staatlichen Musen zu Berlin lädt am Kulturforum zu einer Zeitreise durch eine in Krieg und Barbarei versunkene Welt wohlhabender Berliner. Das von Künstlern und Kunsthändlern, Modeleuten, Schauspielern und Unternehmern geprägte Leben am Rand des Tiergartens wurde nach 1933 von den Nationalsozialisten brutal beendet. Weil sie Juden waren, fielen sie dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer, wurden enteignet und ausgeraubt, deportiert und ermordet.
Kulturforum steht auf alten Fundamenten
Die Kunstbibliothek erinnert bis 31. Dezember 2028 auf eindrucksvolle Weise an ein Stück wenig bekannter Kunst-, Architektur- und Kulturgeschichte und zeigt ein Stück Berlin, das wenig mit der rauen Wirklichkeit der Mietskasernen, der Fabriken und all dem Elend bei „denen da unten“ zu tun hatte. Die Ausstellung schildert mit zahlreichen Fotografien und Erinnerungsberichten, wie es in der Blütezeit des Tiergartenviertels ausgesehen hat und wer dort als Mitglied von Berlins eleganter Welt wohnte und arbeitete, feierte und Gäste empfing. Ähnlich wie am Kurfürstendamm, wo sich ebenfalls reiche Leute in prächtigen Wohnpalästen angesiedelt hatten, lebte man am Rand des Tiergartens komfortabel in Bauten, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Von Straße zu Straße gehend, erfährt man, was sich heute am Kulturforum auf welchen Fundamenten erhebt. Die Kunstbibliothek lädt zur Zeitreise in eine fremde, interessanten und aufregenden Welt und gewährt einen Blick auf die so genannten Goldenen Zwanziger, die hier von Kultur, Kunst und Kreativität geprägt und dort von Elend, Bürgerkrieg, Inflation, Arbeitskampf und schließlich Aufstieg der Nationalsozialisten geprägt waren. In den Villen und Mietshäusern aus der Kaiserzeit gab sich die mondäne Welt des alten Berlin ein Stelldichein. Es fanden Kunstausstellungen und Auktionen statt, und es wurden Modetrends ins Leben gerufen und gezeigt.
Nach dem Ende des Nazireiches und des von ihm angezettelten Zweiten Weltkriegs war Berlin und mit ihm das Tiergartenviertel nicht mehr wiederzuerkennen. Der aus der Familie Mendelssohn Bartholdy stammende Historiker Felix Gilbert schreibt in seinem Buch „Lehrjahre im alten Europa“ (Berlin 1988): „Vor dem alten Tiergartenviertel, wo ich einst wohnte, scheue ich mich geradezu. Als ich zum ersten Mal nach dem Krieg, im Frühjahr 1945, dort war, war das ganze Gebiet ein undurchdringlicher Trümmerhaufen. Jetzt ist es freigeräumt, aber man hat nicht viel gebaut; nur wenige Häuser stehen verloren in der Leere. Es gibt noch Straßenschilder, von denen sogar viele dieselben Namen tragen wie in meiner Jugend, und doch erinnert nichts mehr an die Straßen, die ich doch so genau kannte– ja, sie scheinen mir nicht einmal denselben Boden zu bedecken.“
Menzel, Kolbe, Sintenis, Cassirer
Unter den Künstlern, die das Tiergartenviertel bevölkerten, war der Maler Adolf Menzel, der seit 1875 in der Sigismundstraße 3 lebte und arbeitete. Heute geht es hier über eine Treppe zur Gemäldegalerie. Zu nennen ist auch der Bildhauer Georg Kolbe, dessen Wohnhaus in der Regentenstraße 20 heute von der Gemäldegalerie überbaut ist. In der Bendlerstraße, heute Stauffenbergstraße, wohnte 20 Jahre lang die Bildhauerin Renée Sintenis mit ihrem Mann, dem Maler und Kunstprofessor Emil Rudolf Weiß. 1931 wurde Sintenis als erste Bildhauerin Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Sie schuf den goldenen Bären, der bis heute beim Filmfestival Berlinale verliehen wird.
Von 120 in Deutschland verkauften Werken Vincent van Goghs hatte der Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer 80 vermittelt. Zwischen 1901 und 1914 fanden in seiner Galerie in der Viktoriastraße 35 zehn Einzelausstellungen mit Werken dieses Künstlers statt. Cassirer schrieb 1925 über den Großkaufmann und Mäzen der Berliner Museen Eduard Arnhold, ohne ihn wäre seine Laufbahn unendlich schwieriger gewesen, ohne seine moralische Unterstützung und tatkräftige Hilfe wären ihm in den ersten schweren Zeiten seines Berufes vielleicht der Mut gebrochen worden. Das Ehepaar Eduard und Johanna Arnhold, James Simon, Markus Kappel, Oscar Huldschinsky und weitere Bewohner des Tiergartenviertels verwandelten ihre Wohnungen und Villen in Museen für Meisterwerke aus allen Epochen und förderten nach Kräften auch die Berliner Museen. An das großartige Mäzenatentum der Arnholds erinnert neuerdings eine Stele vor der Gemäldegalerie (siehe Eintrag auf dieser Internetseite vom 19. Oktober 2025). Paul Cassirer begeisterte Nachbarn, Freunde und zahlungskräftige Sammler für den in der Kaiserzeit als „Unkunst“ verteufelten französischen und deutschen Impressionismus und wurde dabei tatkräftig von seiner Frau, der Schauspielerin Tilla Durieux, unterstützt.
„Von der Wand in den Mund“
Die Kunstbibliothek, die Bewohnern des Tiergartenviertels bedeutende Zuwendungen verdankt, erinnert daran, dass das Quartier zeitweilig der bedeutendste Platz der „jungen Mode“ war. Wer es sich leisten konnte, kaufte in damals tonangebenden Ateliers ein. Eine der wichtigsten VertreterInnen der Haute Couture war Erna Becker. Sie ließ sich noch Ende der 20er Jahre in eigenes Modepalais in der Tiergartenstraße 7 (heute Rückseite des Kunstgewerbemuseums) erbauen, konnte sich aber seiner nicht lange erfreuen. Viele Bewohner des Tiergartenviertels von den Nationalsozialisten entrechtet, enteignet,in die Emigration gezwungen und in die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Hausbesitzer mussten ihr Eigentum zwangsweise an die Stadt Berlin verkaufen. Wie die Ausstellung berichtet, wurden Bewohner durch Zwangsabgaben ihres Vermögens beraubt und lebten „von der Wand in den Mund“, wie Käthe Rietzler, die Tochter von Max Liebermann, in Erinnerung an Kunstverkäufe weit unterm Wert formulierte. Heute befinden sich viele seinerzeit im Tiergartenviertel gehandelte oder in privaten Sammlungen befindlich gewesene Gemälde und andere Kunstgegenstände in Museen der ganzen Welt.
Auf dem Gelände sollten nach Plänen von Hitlers Generalbauinspektor Albert Speer das monumentale, dann aber nicht realisierte Oberkommando des Heeres errichtet werden, weshalb die hier stehenden Bauten abrissen werden sollten. Mit der Beseitigung der Trümmerwüste nach dem Zweiten Weltkrieg war für lange Zeit auch die letzte Erinnerung an die ehemals prominenten Bewohner und Bewohnerinnen, ihre außergewöhnlichen Kunstsammlungen und kreativen Leistungen des vornehmen Viertels ausgelöscht. Dass sie durch eine Vortragsreihe und jetzt die Ausstellung aus der „Versenkung“ geholt wurden, ist als späten Akt der Wiedergutmachung sehr zu begrüßen.
Wo Krankenmorde organisiert wurden
An der Haltestelle der Buslinie 200 unweit der Philharmonie erinnert eine Stele an die in der Villa Tiergartenstraße 4 organisierten Krankenmorde der Nazis und damit an die dunkle Seite in der Geschichte des vornehmen Viertels. Auf dem Gelände ist eine Gedenkstätte für die unter dem Tarnnamen T 4 (Tiergartenstraße 4) ermordeten kranken und behinderten Männer, Frauen und Kinder gewidmet. Eine in den Boden eingelassene Tafel betont: „Die Opfer waren arm, verzweifelt, aufsässig oder hilfsbedürftig. Sie kamen aus psychiatrischen Kliniken und Kinderkrankenhäusern, aus altes Altenheimen und Fürsorgeanstalten, aus Lazaretten und lagern. Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter.“
Von hier aus gingen in den späten 1930-er Jahren Befehle an psychiatrische Anstalten, Kliniken und Heime, die dort untergebrachten Erwachsenen und Kinder für den Tod durch Giftgas und Giftspritzen sowie durch Aushungern und auf anderem Wege auszuwählen. Unter dem Deckmantel der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege waren Ärzte und anderes Personal mit dem Aufbau und Betrieb der über das ganze Reich verteilten Tötungsanstalten und der Entwicklung von effektiven Mordmethoden befasst. Die Verbrechen blieben lange Zeit unbekannt und ungesühnt und gelangten erst vor einigen Jahren ins öffentliche Bewusstsein. .
14. November 2025