Unerfüllter Traum vom Fliegen
Medizinhistorisches Museum der Charité setzten einem Möchtegern-Erfinder ein bemerkenswertes Denkmal

Die großzügig angelegte Psychiatrische und Nervenklinik der Berliner Charité 1905 als Ort der Behandlung, der Pflege, der Lehre, der Forschung und Verwaltung eröffnet.

Das von Bernd-Michael Weisheit nachgebaute Segelluftschiff des „Ingenieurs von Tarden“ zieht im Medizinhistorischen Museum neugierige Blicke auf sich.

Psychiatrie-Patient A. R. war vom Fliegen so fasziniert, dass er an einem Fluggerät bastelte, das aber untauglich war. Das Foto links zeigt den Möchtegern-Erfinder (vordere Reihe 2. von links in heller Anstaltskleidung) auf einem Foto vom 5. April 1910 mit Pflegern und Patienten im Garten der Berliner Psychiatrie.

Die Medien und einschließlich der Witzblätter beobachteten 1909 und danach den Zeppelin-Flug genau. Die Karikaturen zeigen, wie Berlin aussieht, wenn Luftfahrzeuge aller Art massenhaft den Himmel erobern .

Wer sich an der Nationalen Flugspende beteiligte, konnte sich 1912 eine Medaille ans Revers heften oder bekam mit einer Schatulle eine Ausgabe in Silber.

Wenn es Kaiser Wilhelm II. in den Kram passte, förderte er Kunst und Wissenschaften. Dieses Bild von 1913 zu seinem 25jähruigen Regierungsjubiläum (Ausschnitt) feiert ihn auch mit einem Zeppelin, von denen manche im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden.
Fotos/Repros: Caspar
Das Medizinhistorische Museum der Berliner Charité zeigt neben der Dauerausstellung auch interessante und gut besuchte Sonderausstellungen. Die neueste Schau handelt das Thema „Erfinderwahn“ am Beispiel des in die Psychiatrie eingewiesenen Patienten A. R. ab, der sich „Ingenieur von Tarden“ nannte. Er träumte davon und zeichnete fleißig Konstruktionen, um mit einem selbst gebastelten Segelluftschiff mit dem Grafen Zeppelin zu konkurrieren, Millionen zu verdienen und ein Denkmal gesetzt zu bekommen, das er mit 10 000 Mark bezahlen wollte. Man ließ den Mann, dessen in sauberer Sütterlinschrift abgefasste Briefe an Ärzte, Militärs und Politiker in der Krankenakte landeten, gewähren. Denn handwerkliche und sonstige Beschäftigung war für die in der Charité tätigen „Irrenärzte“ wichtig, um den ihnen anvertrauten Männern und Frauen, wo es möglich war, einen Weg aus der Psychiatrie zu ebnen. Die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité befand sich gegenüber dem 1899 von Rudolf Virchow eröffneten Pathologischen Museum, dem heutigen Berliner medizinhistorischen Museum. Sie bot, nach Geschlechtern getrennt, 150 psychisch Kranken und 58 Nervenkranken Platz. Es gab Bettensäle, Baderäume, Tagesräume, einen Hörsaal für den wissenschaftlichen Unterricht und Gärten. Diese waren durch eine noch heute vorhandene Mauer vom übrigen Krankenhausgelände abgetrennt.
Weltverbesserer, Wunderheiler, Hellseher
Die Ausstellung im Erdgeschoss des Museums vermittelt einen Einblick in die Arbeitsweise von Psychiatern um 1900 und wie die Patienten behandelt wurden. Dazu zählte die so genannte Bettbehandlung als Methode, „unruhige Kranke“ am Bett zu fixieren oder auch mit in Dauerbädern zu beruhigen, Man hat sie in Isolation „gehalten“, mit Medikamenten und auf andere Weise je nach den Krankheitssymptomen und so gut es ging therapiert. Ursachenforschung war noch unüblich. Unter den Patientinnen und Patienten mögen manche gewesen sein, die man aus unterschiedlichen Gründen für verrückt gehalten und weggesperrt hatte, und sicher hatte der eine oder die andere etwas Genialisches an sich, das aber nicht erkannt und gewollt war. Zu ihren gehörten selbsternannte Propheten, Weltverbesserer, Wunderheiler, Hellseher und Erfinder, aber auch solche, die sich für die Reinkarnation Julius Caesar und Napoleon Bonaparte hielten.
Professor Theodor Ziehen, der die Psychiatrische- und Nervenklinik der Charité von 1904 bis 1912 leitete, war vom therapeutischen Wert körperlicher Beschäftigung und der wohltuenden Wirkung praktischer Arbeit in Werkstätten auf seine Schützlinge überzeugt. In seinen Lehrbüchern lobte er Handwerksarbeiten wie Sägen von Holz, Gartenarbeit und ähnliche Beschäftigungen als nützliche Ablenkung für die Kranken. Zudem sollte ihnen diese Therapie so etwas wie soziale Heilung und Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ermöglichen. Dass Ziehen handwerkliches und gestaltendes Schaffen aktiv unterstützte, zeigen nicht nur die Krankenakte des selbsternannten „Ingenieurs von Tarden“, sondern auch Einträge über andere Patientinnen und Patienten in deren Unterlagen.
Tüftler hinter Klinikmauern
Die Krankenakte gibt Einblicke in das Leben von A. R. Er wurde 1875 als Sohn eines Schlachters geboren, der an Alkoholismus starb. Ihn zog es von Breslau nach in die Reichshauptstadt Berlin, wo er als Drechsler arbeitete. Intensiv aber erfolglos tüftelte er an einer neuartigen Maschine für Drechsler. Die Akte spricht von zunehmender Überanstrengung und von Arbeitsunfällen, von denen einer zur Amputation eines Zeigefingers führte. Um seine Erfindungen realisieren zu können, so ist weiter zu erfahren, reichten seine Mittel nicht aus. Um aber an „schnelles Geld“ zu kommen, legte sich A. R. mit den Gesetzen an. Er musste wegen Zuhälterei und Unterschlagungen ins Gefängnis, beteuerte aber stets er seine Unschuld und versuchte sich in der Haft mehrfach das Leben zu nehmen. 1905 kam er das erste Mal in psychiatrische Behandlung. Als er nach einer weiteren Verurteilung in das Arbeitshaus nach Rummelsburg im heutigen Bezirk Berlin-Lichtenberg eingeliefert worden war, versuchte er zu fliehen. Beim Sturz über die Mauer brach er sich beide Beine und wurde Ende 1908 in die Chirurgische Klinik der Charité aufgenommen. Bald darauf kam er in die Psychiatrie, wo er sich als Ingenieur von Tarden ausgab. Unter den nie abgeschickten, aber der Krankenakte beigelegten Briefe sind solche an den Kriegsminister und die Militär-Luftschiffabteilung, aber auch an seine behandelnden Ärzte. Die Briefe hatten, wie in der Ausstellung erläutert wird, nur ein Ziel - Unterstützung für seine Erfindung eines lenkbaren Segelluftschiffs zu erhalten.
Dass Ingenieur von Tarden Interesse an der Luftschifferei hatte, wie man damals sagte, kam nicht von ungefähr. Am 27. August 1909 startete das 136 m lange Luftschiff ZLZ 6 vom Bodensee in Richtung Berlin, zwei Tage später erschien es über der Reichshauptstadt und zog seine Kreise über dem Brandenburger Tor, dem Schloss, Dom und weitere Sehenswürdigkeiten. Ganz Berlin schaute begeistert zu. Dass auch A. R. vom Garten der Psychiatrie dem ungewöhnlichen Schauspiel beiwohnte, geht aus seiner Krankenakte hervor. Dort sind Fotografien erhalten, die die Entwicklung seiner Konstruktion belegen. Eines zeigt den vom „Erfinder-Wahn“ befallenen Patienten auf einem Stuhl sitzend mit dem Modell seines Segelluftschiffes im Hintergrund. Das Bild erweckt den Eindruck, als würde das Gerät in der Luft fliegen, dabei war es nur in einer Vorrichtung eingehängt. A. R. träumte davon, mit seinem Luftschiff, von kräftigen Winden getragen, nach New York fliegen zu können, zum Sehnsuchtsort vieler Menschen, die hier auf sozialen Aufstieg, Wohlstand und ein besseres Leben hofften.
Tragikomischer Held
Das deutsche Militär zeigte Interesse an Zeppelins Luftschiff, stellte aber als Bedingung für die Übernahme eine reibungslose 24-Stunden-Fahrt. Nachdem die „silberne Zigarre“ am 4. August 1908 bei einer Notlandung in Echterdingen ausgebrannt war, wurden in kürzester Zeit mehr als sechs Millionen Mark gesammelt,. Obwohl Graf Zeppelin zunächst gescheitert war, begründete das Unglück die nationale Zeppelin-Euphorie, von der auch A. R. befallen war. Dem Kriegsminister schrieb er: „Teile Ihnen hier mit, dass ich seit Jahren beschäftigt bin ein lenkbares Luftschiff zu bauen. Ich bin auf die Idee gekommen, selbiges mit einem Segel zu versehen. Mit dem Fahrzeug durchkreuze ich die Luft genauso als wie auf dem Wasser mit einem Segelboot. In diesem Falle brauche ich auch keine Maschine, das Luftschiff geht mit der Schnelligkeit des Windes. Infolgedessen geht mein Luftschiff auch viel schneller als das Luftschiff des Grafen Zeppelin.“
Eine in der Ausstellung ausgelegte Zeichnung von A. R. enthält diesen Text: „Hier ruht in Gott Erfinder des Segeluftschiffes Ingenieur v. Tarden. Er wollte und musste sterben. 5. Januar 1910 .“ Vor dem Haupteingang der Chirurgischen Klinik sollte, wenn er dort in der Narkose bleibt, also stirbt, ein Denkmal errichtet werden. Sollte er später sterben, dann sollte das Denkmal vor dem Eingang der Nervenklinik aufgerichtet werden. Dafür werde er 10.000 Mark und für den Platz eine jährliche „Rente“ an die Charité in Höhe von 1000 Mark zahlen. Da A. R. mittellos und nicht ernst zu nehmen war, legte man den Herzenswunsch dieses tragikomischen Helden samt Zeichnung ad acta. Auf andere Weise hat das Medizinhistorische Museum der Charité dem „armen Irren“, wie man damals zu solchen Leuten zu sagen pflegte, mit der noch bis 30. November 2025 laufenden Ausstellung ein besonderes, zu Herzen gehendes Denkmal gesetzt.
29. Juli 2025