Halbgott vom Sockel gestoßen -
Vor 50 Jahren kratzte Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU vorsichtig am Mythos Stalin. Die Geheimrede wurde aber nur im Westen bekannt.



Auf dem Höhepunkt seiner Macht und internationalen Ansehens: Generalissimus Stalin auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945. (Repro: Caspar)

Als am 5. März 1953 der sowjetische Diktator Josef Stalin mit 71 Jahren starb, brach eine neue Ära an, für die das Bild vom Tauwetter gefunden wurde. Von überall erreichten Beileidsbekundungen und Selbstverpflichtungen für neue Höchstleistungen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Und auch die unter sowjetischer Oberhoheit stehenden Satellitenstaaten überschlugen sich in Trauergesängen für den nun im Lenin-Mausoleum aufgebahrten Diktator.

Jahrzehntelang hatte die kommunistische Propaganda das Bild vom menschenfreundlichen, allwissenden „Väterchen Stalin“ gemalt, dem man auch den Sieg über Hitlerdeutschland zuschrieb. Wer nicht persönlich von seinen Untaten betroffen war, mag daran geglaubt haben. Die vielen anderen aber, die unter seiner Herrschaft gelitten hatten, hofften vergeblich auf ein neues, besseres Leben. Stalins Tod unterbrach die Vorbereitungen für neue Schauprozesse. Gegen Ende seines Lebens mutmaßte der Kreml-Herrscher, dass sich Ärzte gegen ihn verschworen hätten, und ausserdem witterte er überall amerikanische Spione.

Die Verfahren wurden eingestellt, später hat man im Zeichen der so genannten Entstalinisierung unzählige Menschen rehabilitiert. Doch den vielen erschossenen oder in den Arbeitslagern und Zuchthäusern ums Leben gekommenen Stalinopfern aber hat das nichts mehr genutzt. Unter ihnen waren auch deutsche Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren und dort vom Regen in die Traufe kamen.

Stalin, der Lenin unserer Tage und weise Führer aller Werktätigen, wie er sich gern nennen ließ, hatte absichtlich seine Nachfolge nicht geregelt, um die sich nun mehrere Personen aus seiner Umgebung bemühten. Aus dem Gerangel um die Macht kristallisierte sich schon bald Nikita Chruschtschow heraus, einer der engsten Mitarbeiter des Diktators und drei Jahre später auch sein erster Kritiker. Der ehemalige KP-Chef der Ukraine war Mitglied des Politbüros und damit an sowjetischer Innen- und Außenpolitik unmittelbar beteiligt. Er bootete den langjährigen Geheimdienstschef Lawrentij Berija aus, der sich bei den Stalinschen Verfolgungen die Hände besonders blutig gemacht hatte und, als er den Machtkampf verlor, Ende 1953 kurzerhand erschossen wurde.

Stalin starb in der Zeit des Kalten Kriegs, einer höchst gefährlichen Konfrontation zwischen Ost und West. Doch nicht die Rücksicht auf die instabile Weltlage mag die neuen Kreml-Herren davon abgehalten haben, ehrlichen Herzens mit ihrem bisherigen Idol ins Gericht zu gehen. Sie wussten, dass jedes klärende Wort auf sie selber zurückfallen würde. Doch ließ sich die Wahrheit nicht auf Dauer unter der Decke halten. In internen Parteizirkeln nahm man schon bald nach Stalins Tod zur Kenntnis, dass Lenin, der Gründer des Sowjetstaates, vor dem intoleranten, aufbrausenden, machtgierigen Politiker gewarnt hatte. Er sei daher für seine Nachfolger in der Parteiführung ungeeignet, schrieb Lenin. Erst unter Michail Gorbatschow, der 1985 Parteichef wurde, wagte man im Zuge von „Glasnost und Perestroika“, auch öffentlich auf diese selbstverständlich von Stalin unterdrückten Warnungen hinzuweisen und die Millionen Toten zusammenzurechnen, die auf dessen Schuldkonto gingen.

In einer Geheimrede sprach der neue Parteiführer Nikita Chruschtschow vor 50 Jahren, am 25. Februar 1956, auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vorsichtig nur von Personenkult, Dogmatismus und Vergehen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit. Dass die Rede in Moskau nicht sofort veröffentlicht, sondern nur auf Umwegen ins westliche Ausland gelangte und dort zum Entsetzen der Sowjetführer publiziert wurde, spricht Bände. Der neuen Führungsriege war nicht daran gelegen, eine ehrliche und offene Abrechnung mit den Verbrechen des toten Diktators vorzunehmen. Sie wusste, dass die Wahrheit tödlich sein würde.

Chruschtschow behandelte das Problem sehr theoretisch, zitierte in der üblichen Manier die „Klassiker“. Es sei unzulässig und dem Geist des Marxismus-Leninismus fremd, „eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. Dieser Mensch weiß angeblich alles, sieht alles, denkt für alle, vermag alles zu tun, ist unfehlbar in seinem Handeln. Eine solche Vorstellung über einen Menschen, konkret gesagt über Stalin, war bei uns viele Jahre lang verbreitet“, erklärte der Redner, der selber an dem Mythos gearbeitet hatte und sich nun seinerseits zum Halbgott erheben ließ. Die selbst gestellte Frage, „wie sich allmählich der Kult um die Person Stalins herausgebildet hat, der in einer bestimmten Phase zur Quelle einer ganzen Reihe äußerst ernster und schwerwiegender Entstellungen der Parteiprinzipien, der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde“, beantwortete Stalins früherer Handlanger nicht. Er hätte ja bei sich anfangen und seine Rolle in der Parteiführung beschreiben müssen. Dass das „System Stalin“ auf Terror und Gewalt basierte und weiterhin unter anderem Namen auch nur so funktionierte, nämlich auf der Unterdrückung des Individuums und ganzer Völkerschaften, war Basis von Chruschtschows Machterhalt und daher für ihn kein Thema.

Ungeniert verband der neue Parteichef seine Ausführungen mit Avancen an den toten Sowjetführer, über dessen Verdienste „noch zu seinen Lebzeiten eine völlig ausreichende Anzahl von Büchern, Broschüren, Studien verfasst (wurde). Allgemein bekannt ist die Rolle Stalins bei der Vorbereitung und der Durchführung der sozialistischen Revolution, während des Bürgerkrieges sowie im Kampf um die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande. Darüber wissen alle gut Bescheid“, sagte Redner, den offenbar Zweifel an dieser mit hohen Menschenopfern verbundenen Politik nicht anfielen. Die ganze Wahrheit, die Wahrheit der Schauprozesse und Massenhinrichtungen, die Bolschewisierung der Landwirtschaft und Industrie, die Liquidierung der geistigen Elite des Landes, die Umsiedlung von ganzen Völkerschaften, der Fehler des „Feldherrn“ Stalin vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkrieg sowie die Annexion und Unterdrückung jener Länder, die unter seine Fuchtel gerieten – das konnte und durfte nicht angesprochen werden.

Die ziemlich allgemein gehaltenen Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU läuteten die vorsichtig die Demontage Stalins auch in der DDR und anderen sozialistischen Bruderländern ein. Der ehemalige Halbgott war nun kein „Klassiker“ mehr. Lange daher gebetete Sprüche waren Makulatur, doch der Geist des toten Diktators blieb in vielen Köpfen fest sitzen. Klammheimlich wurde 1961 das Stalindenkmal in der Berliner Stalinallee, die heutige Karl-Marx-Allee, abgebaut, und Stalinstadt hieß nun Eisenhüttenstadt. Einzelheiten über Stalins Verbrechen, die natürlich auch Schatten auf die Politik von SED-Chef Ulbricht & Co. warfen, ließen sich auch im Osten Deutschlands auf Dauer nicht verheimlichen. Dafür sorgten schon die westlichen Medien. Nur in wolkigen Worten wurden Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit eingeräumt. Am 17. Juni 1953 wurden in der DDR beziehungsweise drei Jahre später in Ungarn und Polen und dann 1968 auch in der damaligen CSSR Volksbewegungen für mehr Demokratie und Überwindung stalinistischer Verkrustungen niedergeschlagen. Trotz verbaler Bekundungen für mehr Demokratie und Mitbestimmung wurde, um bei der DDR zu bleiben, stalinistisches Denken nicht überwunden, weder bei Ulbricht noch bei seinem Nachfolger Honecker.

Helmut Caspar

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