Todesurteile für „toll gewordene Hunde“ -
Vor 70 Jahren rechneten die Moskauer Schauprozesse erbarmungslos mit Stalins ehemaligen Weggefährten ab



Stalin als Militärführer und Sieger der Geschichte. Seine Verbrechen wurden erst nach 1956 nach und nach offenkundig. (Repro: Caspar)

Als am 19. August 1936 in Moskau vor dem Militärtribunal der Sowjetunion ein Verfahren gegen 16 ehemalige hohe Parteifunktionäre eröffnet wurde, standen die Urteile schon fest: Tod durch Erschießen. Die angeklagten früheren Politbüromitglieder Lew Kamenjew und Grigori Sinowjew und weitere Personen waren in dem ersten von einer ganzen Reihe von Schauprozessen der terroristischen Verschwörung gegen Josef Stalin, den Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), beschuldigt. Als angebliche Anhänger des im Exil lebenden früheren Revolutionsführers Leo Trotzki, eines engen Kampfgefährten des Partei- und Staatsgründers W. I. Lenin, hatten sie keine Chance, ihr politisches Handeln zu erklären und sich zu verteidigen. Rücksicht auf frühere Verdienste um die russische Revolution von 1917 und beim Aufbau der jungen Sowjetmacht wurde nicht genommen. Entlastende Argumente kamen erst gar nicht zur Sprache, und die Schlussworte der Angeklagten mit Bekenntnissen zum Kommunismus verhallten ungehört.

Die von Stalin genau instruierten Militärrichter beriefen sich bei ihrem Urteil auf „Geständnisse“, die den Angeklagten durch Folter und psychischen Druck abgepresst worden waren. Angeblich hätten die als „Scheusale“, „weißgardistisches Gezücht“ und „nichtswürdigen Lakaien der Faschisten“ diffamierten Angeklagten den Kapitalismus in der Sowjetunion wiederherstellen wollen. Als Agenten westlicher Staaten hätten sie antikommunistische Wühlarbeit geleistet und eine „jämmerliche, vom Leben losgerissene und bis ins Mark verfaulten Fraktionsgruppe“ gebildet, wie es in dem von Stalin verfassten und redigierten „Kurzen Lehrgang der KPdSU“ heißt.

Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinski warf zu Prozessbeginn vor nunmehr 70 Jahren den Angeklagten schwerste Staatsverbrechen vor - Terrorakte gegen die Führer der KPdSU und die Sowjetregierung, die Ermordung von Stalin und weiteren hohen Funktionären, der nie ganz aufgeklärte Mord an dem angeblich von Stalin so geliebten Funktionär Sergej Kirow im Jahr 1934 sowie heimliche Verbindungen zu dem im Exil lebenden Leo Trotzki vor, den Stalin als seinen Hauptfeind ansah und 1940 in Mexiko ermorden ließ. Der Chefankläger beschimpfte die Angeklagten als „Lügner, Clowns, elende Pygmäen, Möpse und Kläffer, die sich über den Elefanten erbosten“ und schloss seine Anklagerede mit den Worten: „Ich fordere, dass diesen tollgewordenen Hunde allesamt erschossen werden!“. Dem Antrag folgte alsbald die Verurteilung und Liquidierung der Angeklagten, die außerdem der „Damnatio memoriae“, also der Tilgung ihrer Person aus dem allgemeinen Gedächtnis, verfielen. Fotos, die Stalins ehemalige Weggefährten zeigten, wurden entweder vernichtet oder retuschiert, und auch Geschichtsbücher wurden im Sinne des Alleinherrschers neu geschrieben.

Josef Stalin hatte jenen vor nunmehr 70 Jahren Prozess sorgsam vorbereiten lassen und wurde von seinen Emissären ständig auf dem Laufenden halten. Endlich - so glaubte er - war er im Stande, die ganze Gefährlichkeit seiner Gegner nachzuweisen und zu zeigen, dass nur er allein der legitime Erbe von Lenin sei. Die öffentlichen Verhandlungen sollten abschreckend wirken und anderen Oppositionellen, die mit dem rigorosen Modernisierung- und Kollektivierungskurs des Diktators nicht einverstanden waren, zeigen, wohin es führt, wenn man sich ihm anlegt. Zugleich sollten die Verfahren die Führungsschicht noch stärker um den Diktator scharen. Da er sich als Führer des Weltproletariats verstand und über die in vielen Ländern tätigen kommunistischen und Arbeiterparteien bestimmen wollte, dienten die Schauprozesse auch der Disziplinierung von Parteiführern außerhalb der Sowjetunion. Im Übrigen hatten Stalin und die ihm hörige Justiz mit solchen Schauveranstaltungen bereits Erfahrungen. Den spektakulären Verfahren von 1936 und folgenden Jahren waren andere, weniger bekannte Prozesse mit ähnlichen Ergebnissen vorangegangen, etwa solche gegen Kulaken und ehemalige Großgrundbesitzer, gegen reiche Exilrussen und gegen Wissenschaftler, die nicht ins ideologische Konzept des „roten Zaren“ passten und seinen Allmachtsphantasien im Wege standen.

Den Völkern der Sowjetunion und dem Ausland wurde 1936 ein rechtsstaatliches Verfahren aufgrund der sowjetischen Verfassung und der Strafgesetze vorgegaukelt. Doch wie 20 Jahre später Stalins Nachfolger im Amt des Parteichefs, Nikita Chruschtschow, in seiner berühmten Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU erklärte, waren der Schauprozess von 1936 und die sich bis 1938 anschließenden Verfahren gegen weitere Parteifunktionäre und hohe Militärführer alles andere als dem Recht und Gesetz verpflichtet. Stalin habe Kollektivität in der Führung und in der Arbeit „absolut“ nicht ertragen, stellte Chruschtschow fest, der mit jener Rede die so genannte Entstalinisierung einleitete. Diese erfolgte recht zögerlich, denn Chruschtschow hatte Stalin bis zu dessen Tod am 5. März 1953 treu gedient; er kannte bestens die Praktiken des krankhaft misstrauischen Diktators, der sich überall von Feinden und Neidern umgeben glaubte.

Stalin, vor dessen negativen Charaktereigenschaften schon Lenin gewarnt hatte, habe sich brutaler Gewalt gegenüber allem erlaubt, „was sich nicht nur gegen ihn richtete, sondern was ihm, bei seiner launenhaften und despotischen Neigung, seinen Konzeptionen zu widersprechen schien“, erklärte Chruschtschow. Er habe „nicht mit dem Mittel der Überzeugung (gehandelt), der Erklärung, der geduldigen Arbeit mit den Menschen, sondern durch das Aufzwingen seiner Konzeptionen, indem er die absolute Unterordnung unter seine Meinung forderte.“ Wer sich Stalin entgegenstellte oder versuchte, seinen eigenen Gesichtspunkt und die Richtigkeit seines Standpunktes zu begründen, so Chrutschschow weiter, sei zum Ausschluss aus dem Leitungskollektiv und in der Folge zur moralischen und physischen Vernichtung verurteilt gewesen. Stalins Despotismus seien viele ehrliche, der Sache des Kommunismus ergebene, hervorragende Parteifunktionäre und einfache Parteiarbeiter zum Opfer gefallen. Dennoch müsse festgestellt werden, „dass die Partei einen ernsthaften Kampf gegen die Trotzkisten, die Rechtsabweichler, die bürgerlichen Nationalisten führte, dass sie alle Feinde des Leninismus ideologisch zerschlug. Dieser ideologische Kampf wurde erfolgreich geführt; in seinem Verlauf kräftigte und stählte sich die Partei noch mehr. Hier spielte Stalin eine positive Rolle.“

Zwanzig Jahre nach jenen Schauprozessen wiederholte Chruschtschow die Vorwürfe von 1936, Bucharin, Sinowjew und die anderen Angeklagten hätten „im Grunde genommen“ zur Wiedererrichtung des Kapitalismus, zur Kapitulation vor der Weltbourgeoisie aufgerufen. Daher sei es gerechtfertigt gewesen, „dass die Partei einen unbarmherzigen ideologischen Kampf geführt hat, allen Parteimitgliedern und den parteilosen Massen erklärte, worin die Schädlichkeit und Gefährlichkeit der antileninistischen Auftritte der trotzkistischen Opposition und der Rechtsopportunisten bestanden“ hätten. Chruschtschow zufolge sei nach Lenins Tod (1924) und in der frühen Stalin-Zeit der Kampf gegen die Abweichler zunächst politisch-ideologisch ausgefochten worden. Das war eine Lüge, denn schon zu Lenins Lebzeiten gab es massenhafte Repressalien und die Verbannung in die Arbeitslager, nur waren diese Maßnahmen nicht so spektakulär wie die von 1936 und den folgenden Jahren.

Der von Stalin eingeführte Begriff „Volksfeind“ habe ihn umgehend von der Notwendigkeit befreit, so Chruschtschow weiter, die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Menschen nachzuweisen. Er habe die Anwendung schrecklichster Repressionen und den Bruch der revolutionären Gesetzlichkeit erlaubt und die „Möglichkeit irgendeines ideologischen Kampfes oder der Darlegung der eigenen Ansichten zu dieser oder jener Frage auch praktischen Inhalts“ ausgeschlossen. Als einziger Schuldbeweis sei das gewaltsam erzwungene „Geständnis“ der Verurteilten betrachtet worden. „Das führte zu einer krassen Vergewaltigung der revolutionären Gesetzlichkeit, (und) dazu, dass viele total Unschuldige, die in der Vergangenheit die Parteilinie verteidigt hatten, zu Opfern wurden.“

Da sich Stalin nach den Schauprozessen von 1936 weiter von Feinden umgeben sah, fanden neue Verfahren dieser Art statt. Besonders böse Folgen hatte die „Säuberung“ der Roten Armee von „trotzkistischen Elementen“ und die Liquidierung hochrangiger, wegen ihrer Verdienste um die Sowjetunion ehemals gefeierter Militärs. Der bisherige Verteidigungsminister Marschall Tuchatschewski und weitere hohe Offiziere wurden in einem 1937 veranstalteten Schauprozess des Hochverrats und der Spionage für schuldig befunden und hingerichtet. Die Ausschaltung von kampferprobten Marschällen, Armeegeneralen, Korpskommandanten und weiteren Militärführern, die sich Stalins Plan der Wiedereinführung von Kriegskommissaren widersetzt hatten, schwächte die Rote Armee außerordentlich und führte 1941, als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfiel, zu hohen Landgewinnen der deutschen Wehrmacht sowie auf sowjetischer Seite zu unermesslichen Verlusten an Blut und Gut.

Helmut Caspar

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