„Du holst den Armen und den Reichen“ - Wovon der mittelalterliche Totentanz in der Berliner Marienkirche erzählt





Nur schemenhaft überliefert ist der „Totentanz“ in der Marienkirche. Wie das Wandgemälde im Turmbereich ursprünglich aussah, zeigen diese beiden Rekonstruktionszeichnungen.



Die Marienkirche zählt zu den ältesten Gotteshäusern in Berlin und birgt einen einzigartigen Schatz von sakraler Kunst und prächtigen Grabmälern. Repro (2x) / Foto: Caspar

Berlin und die Mark Brandenburg wurden immer wieder von Seuchen heimgesucht, und jedesmal gab es viele Todesopfer. Die Ursache für das Massensterben konnte man nicht erklären. Der „schwarze Tod“ wurde mit allgemeiner moralischer Verkommenheit in Verbindung gebracht und als göttliche Strafe gedeutet. Nicht erkannt wurde, dass fehlende Hygiene, das Zusammenleben auf engstem Raum, Mangelernährung und der meist schlechte Gesundheitszustand der Bevölkerung der Ausbreitung der Pest Vorschub leisteten. Kunsthistoriker deuten den „Totentanz“ in der Berliner Marienkirche, ein 22 Meter langes und etwa zwei Meter hohes Wandgemälde aus dem späten 15. Jahrhundert, als Antwort auf das Grassieren von Epidemien. Nur noch in Umrissen erhalten, gilt der um 1484, als wieder einmal Berlin von einer Epidemie heimgesucht wurde, gemalte Fries zu den bedeutendsten Kunst- und Sprachdenkmälern der Mark Brandenburg. In der Reformationszeit im frühen 16. Jahrhundert, als ein großer Bildersturm die Kirchen leer fegte, hat man den Fries nicht von der Mauer im Eingangsbereich des Gotteshauses abgehackt, sondern nur überstrichen. Erst im Spätherbst 1860 haben Restauratoren den Reigen weiß gewandeter „Tode“ mit 28 Vertretern geistlicher und weltlicher Stände bei Umbauarbeiten unter der Leitung des Architekten Friedrich August Stüler freigelegt. Offenbar fand man damals die fragmentarische Überlieferung kein Gefallen, und so wurde die einzigartige Bilderfolge recht großzügig und phantasievoll ergänzt, eine Arbeit, die sich niemand mehr erlauben würde. Diese „Überrestaurierungen“ wurden Mitte der 1950-er Jahre rückgängig gemacht, so dass sich die Wandmalerei heute in authentischem, jedoch fragmentarischem Zustand zeigt. Nur noch auf Zeichnungen, die nach den schemenhaft überlieferten Figuren angefertigt wurden, kann man erkennen, wer da mit wem tanzt und aus welchen Gesellschaftsschichten die Personen kommen.

Schon in der Entdeckungszeit gab der Zustand des Kunstwerks Anlass zur Sorge. Aufsteigende Feuchtigkeit im Mauerwerk und ausblühende Salze setzten dem mal schreitend, mal hüpfend dargestellten Tod und seinen Begleitern zu. So schritt der Verfall ungehemmt voran. Viele Gottesdienstbesucher und solche, die in der Marienkirche Konzerte hören oder sie nur besichtigen wollen, brachten Staub und Feuchtigkeit in die Turmhalle mit. Hinzu kamen Ausdünstungen des Autoverkehrs von der nahe gelegenen Karl-Liebknecht-Straße, die die fragile Malerei weiter schädigten. Um sie vor Abgasen zu schützen, hat man in den 1990-er Jahren zwischen Eingangsportal und Kirchenschiff einen Tunnel aus Glas gebaut. Er schirmt die Wandmalerei ab, dennoch können Besucher sie durch die Scheiben betrachten.

Ob sich der Totentanz auf solch elementare Ereignisse wie die Pest und/oder soziale Spannungen bezieht oder nicht – die Botschaft ist klar: Alle Menschen sind sterblich, und wir sollten nicht vor Gott treten, ohne Gutes getan und gebüßt sowie Vergebung für begangene Sünden bekommen zu haben.

Der Zyklus steht in der Tradition niederländisch-norddeutscher Totentanzdarstellungen und -dichtungen des späten Mittelalters. Er beginnt, ungewöhnlich für solche Darstellungen, nicht bei den obersten Spitzen der ständisch geordneten Gesellschaft, also mit dem Papst und dem Kaiser, sondern ganz unten. In aufsteigender Linie sprechen Küster, Mönch, Prediger, Arzt, Domherr, Abt, Bischof, Kardinal und Papst mit dem Tod. Nach dem Bild des kaum noch erkennbaren gekreuzigten Christus folgen in absteigender Linie Kaiser und Kaiserin, König, Herzog und Ritter, Bürgermeister, Wucherer, Junker, Kaufmann, Bauer, Gastwirtin, Narr sowie eine Mutter mit Kind.

Die für die Erforschung früher Mundarten und Wortschätze wichtige, leider nur fragmentarisch überlieferte Rede und Gegenrede ist in niederdeutscher Sprache abgefasst. Ziemlich gut erhalten ist, was beispielsweise der Bürgermeister zu seinem bleichen Begleiter spricht: „Och gude doeth ick kann die nicht entwiken / du halest den armen vnde den riken - O guter Tod, ich kann Dir nicht entweichen / Du holst den Armen und den Reichen“. Dem Franziskanermönch, der den Reigen eröffnet, sagt der Tod, dieser habe immer gut reden können, nun aber müsse auch er den bitteren Tod erleiden, und dem Augustinermönch wird angekündigt „Die Geistlichen sterben gleich den Laien“. Dem Wucherer wirft der Tod in holprigen Reimen vor, er sei für Geld gut zu sprechen gewesen, aber weil er die Armen übervorteilt hat, werde er großes Weh erleiden. Auch der Gastwirtin, die als „Krügersche“ angesprochen wird, droht der Tod: „Ihr müsst schon mit, / Falsch zapfen (und) abrechnen ist Eure Sitte / Folget nach, Ihr seid wohl zum Tanze bereit“. Worauf die Wirtin antwortet, der Tod möge lieber den Narren mitnehmen, denn sie wolle weiter Bier zapfen. Auch dem Kaiser, der so stolz, edel und mächtig ist und schon auf Erden das Himmelreich hatte, dazu ein gutes, hübsches Weib und schöne Pferde, ruft der Tod zu: „Nun legt schnell nieder die goldene Krone. / Haltet Euch zu dem Totentanz bereit: / Ihr müsst mit, es sei Euch lieb oder leid“.

Der Totentanz ist nicht das einzige Kunst- und Geschichtsdenkmal, das einen Besuch der Berliner Marienkirche lohnt. Das im späten 13. Jahrhundert errichtete und danach immer wieder umgebaute und erweiterte Gotteshaus birgt eine Vielzahl bedeutender Zeugnisse sakraler Malerei und Bildhauerkunst. Zu nennen sind unter anderem eine von Andreas Schlüter geschaffene Kanzel, deren Korb von zwei stehenden Engeln aus Marmor flankiert wird, während der Schalldeckel von jubilierenden Engeln bevölkert wird. Reste mittelalterlicher Schnitzaltäre und zahlreiche Tafelbilder religiösen Inhalts, aber auch großartige Grabmäler von der Renaissance über den Barock bis zum Klassizismus unterstreichen die Bedeutung der Marienkirche für die Berliner, aber auch als Grablege des in der brandenburgischen und preußischen Haupt- und Residenzstadt lebenden Adels und Patriziats. Zu den kostbaren Ausstattungsstücken gehört die Orgel, ein Meisterwerk von Joachim Wagner aus den 1720-Jahren. Jüngst wurden in der Marienkirche in Verbindung mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg Werke des Wittenberger Malers Lucas Cranach, eines Parteingängers von Martin Luther, gezeigt. Die Ausstellung war ein Erfolg und könnte den Auftakt weiterer Veranstaltungen dieser Art werden, mit denen der Bekanntheitsgrad der Marienkirche sich weiter verbessern lassen würde. Das 1989 aus dem Exil in Weißensee herbei geholte Denkmal des Reformators Martin Luther, das neben der Kirche an der Seite zur Karl-Liebknecht-Straße steht, ist ein Werk von Paul Otto aus dem Jahr 1895 und bildete ursprünglich den Mittelpunkt einer großartigen Denkmalanlage auf dem Neuen Markt neben der Marienkirche. Die zum Standbild des als glaubensstark und selbstbewusst dargestellten Theologen gehörenden Assistenzfiguren wurden im Zweiten Weltkrieg der Rüstungsindustrie geopfert.

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