Revolution mit sechs Punkten
Das Deutsche Blindenmuseum im Berliner Ortsteil Steglitz ehrt Menschen, die sich um Blinde und Sehschwache verdient gemacht haben



Die Stolpersteine vor dem Haus Nazareth in der Steglitzer Wrangelstraße erinnern an Berliner Jüdinnen und Juden, die hier gelebt und gearbeitet haben und 1942 von hier in die Vernichtungslager deportiert wurden, wo die Nationalsozialisten sie ermordet haben.



Im Vorgarten des Blindenmuseums wird eine blinde Frau von ihrem Hund sicher durch die Welt der Sehenden geführt.



Oskar Picht hat sich um Blinde verdient gemacht, die in der Königlichen Porzellanmanufaktur gefertigte Tafel hält die Erinnerung an ihn wach. (Fotos: Caspar)

Vor dem Haus Nazareth Wrangelstraße 6-7 im Berliner Ortsteil Steglitz wurden vor kurzem zehn Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an blinde und sehbehinderte Juden, die hier bis zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten gelebt und gearbeitet haben. Wenige hundert Schritte weiter lädt in der Rothenburgstraße 14/15 das Deutsche Blindenmuseum zum Besuch ein. Der Klinkerbau aus der Kaiserzeit gehört zu einem großen Gebäudekomplex, in dem die Johann-August-Zeune-Schule für Blinde und die Berufsfachschule Dr. Silex untergebracht sind.

Vor dem Blindenmuseum steht die Bronzefigur einer Frau mit Führhund an der Seite. Zwei Porzellantafeln an der Hausfassade erinnern an Oskar Picht und Betty Hirsch, die viel für blinde Menschen geleistet haben. Oskar Picht war Direktor der Blindenbildungsanstalt in Steglitz und half mit der von ihm erfundenen Punkschrift-Steno-Maschine Blinden bei der Kommunikation und der Niederschrift von Aussagen bei Gericht und Reden in Parlamenten und an anderen Orten. Nach seiner Versetzung in den Ruhestand zog Picht 1934 in das Blindenheim Potsdam-Rehbrücke. Die Tafel zu Ehren der blinden Sprachlehrerin Betty Hirsch erinnert an eine ehemalige Schülerin des Blindeninstituts, das zur Berufsfachschule entwickelt wurde. Da sie Jüdin war, musste sie die privat betriebene Schule aufgeben. Ihr gelang die Emigration nach England, wo sie an ihrer Lebensaufgabe weiter wirkte. "Von ihr gingen zukunftweisende Impulse für die berufliche Tätigkeit und Emanzipation blinder Menschen aus", hebt die in der Königlichen Porzellanmanufaktur Berlin gefertigte Gedenktafel hervor.

Betty Hirsch nahm sich der im Ersten Weltkrieg erblindeten Menschen an und fand in Paul Silex einen Augenarzt, der großes Ansehen genoss und den sie überzeugte, diesen Kriegsblinden außer medizinischer auch weitere Hilfe zukommen zu lassen. Sie unterwies Blinde in der Blindenschrift und brachte ihnen normales Schreibmaschinenschreiben und andere Fertigkeiten bei. Silex unterstützte Betty Hirsch, indem er Spenden einwarb, und mit seinem persönlichen Vermögen. Sie suchte und fand Arbeitsmöglichkeiten für blinde Menschen in staatlichen Betrieben, um diesen die Integration unter den Sehenden zu ermöglichen. Mit der steigenden Zahl von Kriegsblinden ab 1916 konnte Silex auch Privatfirmen gewinnen, Blinde mit Arbeitsaufgaben zu betrauen. Nach Kriegsende bekam Hirsch eine feste Anstellung an der Blindenfachschule, die mit der Zeit zu großem Ansehen gelangte. Nachdem 1923 Geheimrat Silex seine Arbeit beendete, führte sie die Schule weiter. Ihr gelang es, Spenden zur Abdeckung der Sachkosten zu bekommen, während der Berliner Magistrat die für die Personalkosten aufkam. Nach der Errichtung der NS-Diktatur wanderte Hirsch nach England aus, und die Bildungsstätte wurde von der Stadt Berlin als Silexhandelsschule für Blinde weitergeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam Betty Hirsch den Auftrag, die mittlerweile in Deutschland verteilten Schulaußenstellen wieder in Berlin zusammenzuführen. Am 1. April 1949 zog die Silexhandelsschule in die Gebäude der Steglitzer Blindenbildungsanstalt um und wurde ihr administrativ unterstellt.

Das Deutsche Blinden-Museum Berlin wurde im Jahre 1890 von Direktor Karl Wulff an der Königlichen Blindenanstalt zu Steglitz gegründet. 1906 erhielt es ein eigenes Gebäude anlässlich des einhundertsten Jubiläums der Königlichen Blindenanstalt, die 1806 von Johann August Zeune gegründet worden war. Die Ausstellung "Sechs Richtige!" schildert, wie die Erfindung der Sechs- Punkte-Schrift durch den damals erst sechzehnjährigen Franzosen Louis Braille 1826 das Leben blinder Menschen revolutioniert hat und wie die Braille-Schrift heute genutzt wird. Das Museum widmet sich der Geschichte des Blinden- und Sehbehindertenwesens in Deutschland. Fotos, Gemälde und Geräte sowie Blindenhilfsmittel aus zwei Jahrhunderten belegen sozialgeschichtliche, pädagogische und integrative Aspekte des Blindenwesens. Die Ausstellung dokumentiert ferner die Geschichte des Lesens und Schreibens der Blinden, ehrt Louis Braille und seine Blindenschrift, zeigt Lehrmittel für den Blindenunterricht und schildert schließlich, wie die Berufsbildung für Blinde und Sehbehinderten in Geschichte und Gegenwart gestaltet ist. Ausgestellt sind auch Hilfsmittel zur Integration in die Arbeitswelt, Beispiele für die Freizeitgestaltung sowie Beispiele für handwerkliche Erzeugnisse und künstlerische Arbeiten von Blinden und Sehbehinderten. Außerdem haben die Besucher in einem Übungsraum die Möglichkeit, mit Schreibgeräten für Blinde zu experimentieren, Spiele auszuprobieren und Objekte zu ertasten. Das Museum ist jeden Mittwoch von 15 bis 18 Uhr geöffnet, öffentliche Führung findet jeden 1. Sonntag im Monat um 11 Uhr statt. Weitere Informationen unter www.blindenmuseum-berlin.de/. Helmut Caspar

19. Juni 2017

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