Flucht - Vertreibung - Versöhnung
In der Nähe des Anhalter Bahnhofs in Berlin ist ein neues Dokumentationszentrum und Ort des Erinnerns und Verstehens entstanden





Das nach langer Planungs- und Bauzeit am 21. Juni 2021 in Anwesenheit der Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeweihte Dokumentationszentrum lädt ein zu einer hochemotionalen Zeitreise durch die Geschichte von Flucht und Vertreibung, Deportation und Zwangsmigration. Es versteht sich zugleich als ein Ort der Versöhnung. Im früheren Deutschlandhaus hatten die von der DDR als "revanchistisch" attackierten Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen ihre Büros.



Die Ausstellung schildert anhand von Bildern, Dokumenten, Plakaten und Videos sowie Hinterlassenschaften wie dem auf die Flucht mitgenommenen Teddybär mit einem Ohr das Schicksal von Millionen Menschen, die im 20. Jahrhundert, aber auch in unserer Gegenwart durch Kriege und Veränderungen der politischen Landschaft gezwungen wurden, unter oft erbärmlichen Umständen ihre Heimat zu verlassen und irgendwo anders eine neue zu suchen.





Transportkisten und urtümlich anmutende Karren erinnern, wie Flüchtlinge auf beschwerlichen und gefährlichen Wegen aus der alten in die neue Heimat gelangt sind.



In Räumen neben der Ausstellung und in der Bibliothek kann man sein Wissen über Themen wie Flucht, Vertreibung, Zwangsaussiedlung, Emigration, Migration, Völkerrecht, Strafprozesse usw. in aller Ruhe vertiefen.





Auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs werben Bild- und Texttafeln für den Bau eines Exilmuseums hinter der eindrucksvollen Ruine des Eingangsportals - hier die Rückseite, dazu Blick auf die Bild-Text-Wände. Von hier aus sind es nur wenige Schritte zum neuen Dokumentationszentrum "Flucht - Vertreibung - Versöhnung". (Fotos: Caspar)

Vor dem unlängst eröffneten Dokumentationszentrum "Flucht - Vertreibung - Versöhnung - Zwangsmigration" im Deutschlandhaus Stresemannstraße 90 gleich neben dem U-Bahnhof Anhalter Bahnhof in Berlin warten Besucherinnen und Besucher auf den Einlass. Coronabedingt ist die Zahl derer, die den Ort des Erinnerns und Verstehens begrenzt, wie die Ausstellung und Forschungsstelle genannt wird. Wer sich im Internet angemeldet hat, geht an der Warteschlange vorbei und wird gleich eingelassen. Wer es geschafft hat, der sieht eine zum Nachdenken und zur Einkehr anregende Ausstellung auf zwei Etagen.

Für rund 30 Millionen Euro wurde das frühere, in den 1920er Jahren nach Entwürfen des Büros Bielenberg & Moser errichtete, mit Fassadenelementen im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaute Deutschlandhaus umgebaut. Erhalten blieb die markante, zum Teil mit rotem Porphyr verkleidete Fassade, während das Innere völlig neu strukturiert wurde. Eine breite Treppe führt in die erste Etage und eine weitere gewundene Treppe in die zweite Etage. In dem bundeseigenen Gebäude laden neben der Ausstellung auch eine Bibliothek sowie ein Zeitzeugenarchiv zu Besuch und Studium ein. Weiterhin gibt es Veranstaltungsräume, einen Museumsshop und ein Restaurant.

Teddybär, Leiterwagen, Hausrat

Das von der vom Alliiertenmuseum in Berlin-Dahlem gekommenen Historikerin Gundula Bavendamm geleitete Dokumentationszentrum schildert anhand von Bildern, Dokumenten, Plakaten und Videos sowie Hinterlassenschaften und Andenken. Dazu gehört ein auf der Flucht mitgenommener Teddybär nur mit einem Ohr, dazu kommen Leiterwagen, auf denen die Ausgewiesenen und Flüchtenden ihre Habseligkeiten transportiert haben, oder Kleidungsstücke, die vor Kälte und Regen schützten, aber auch Hausrat, der dem Dokumentationszentrum übergeben wurde, weil er dort am besten aufgehoben ist und gezeigt wird. Nicht zu vergessen Fotoalben und Bilder aus der Heimat und andere Erinnerungsstücke, die die Stiftung im Laufe der Jahre geschenkt bekam. Geschildert werden die Ursachen für Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert und leider auch heute. Ein Bücherstapel symbolisiert, wie sich Menschenrechte, Völkerrecht internationales Strafrecht entwickelt haben. Einige Bücher dokumentieren unerfüllte Hoffnungen auf Bestrafung von Massenmördern, aber auch die Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung der von der Völkergemeinschaft formulierten Ziele zur Durchsetzung von Menschenwürde, Freiheit und Demokratie, die diese Bezeichnung wirklich verdient. An Beispielen aus umkämpften Gebieten und okkupierten Ländern stellt die Ausstellung das Schicksal von Millionen Menschen dar, die in Kriegen und Veränderungen der politischen Landschaft gezwungen wurden, unter schrecklichen, traumatisierenden und oft auch tödlichen Umständen ihre Heimat zu verlassen und irgendwo anders eine neue zu suchen.

Einen Schwerpunkt der nach langen, kontroversen Diskussionen eröffneten Ausstellung bildet in der zweiten Etage das, was Deutsche bei ihrer Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg erlitten haben und wie die zwangsweise, oft chaotisch verlaufende Aussiedlung, aber auch die Festlegung der deutschen Ostgrenze durch das Potsdamer Abkommen von 1945 das politische Klima vor allem in der jungen Bundesrepublik Deutschland bestimmte und trübte. Die Ausstellung unterstreicht, dass Ausgangspunkt allen mit den Zwangsmaßnahmen und territorialen Veränderungen verbundenen Leids einschließlich der vielen Todesopfer auf endlos langen Wegen in eine neue Heimat Hitlers Diktatur und der vom Deutschen Reich geführte Eroberungs- und Vernichtungskrieg war. In den heftigen Debatten um Heimat und Heimatvertriebene wurden diese Ursachen vielfach ausgeblendet. Tatsache ist, dass viele von ihnen begeistert die Hitlerdiktatur begrüßt und unterstützt hatten, ja auch in Verbrechen verwickelt waren, wovon sie aber nach dem Krieg nichts wissen wollten. Befürchtungen, das schreckliche Schicksal von Millionen in den Trecks mühsam laufenden, vielfach von ihren neuen Landsleuten abgelehnten Menschen könne das der von den Nationalsozialisten eroberten, ausgebeuteten und unterdrückten Länder in den Schatten stellen und auch Holocaust und Völkermord relativieren, erweisen sich als haltlos. Man muss sich nur die Zeit nehmen und die Exponate und Texte genau studieren.

Haus ohne Dach / Kind ohne Bett

Wer sich Zeit nimmt, lernt wenige Schritte vom Dokumentationszentrum hinter dem nur in Resten erhaltenen Eingangsportikus des Anhalter Bahnhofs Pläne für ein Exilmuseum kennen, das hier gebaut werden soll. Das Projekt geht auf eine bürgerschaftliche Initiative um die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und den Berliner Kunsthändler und Mitbegründer der Villa Grisebach, Bernd Schultz, zurück. Der Standort auf dem Gelände des ehemals größten Bahnhofs der Stadt könnte nicht besser gewählt sein, denn von hier aus fuhren auch zahlreiche Menschen, die den Rassegesetzen der Nationalsozialisten unterlagen oder weil sie von ihnen als "Volksfeinde" angesehen worden waren, in die Freiheit, aber auch in eine unsichere Zukunft. Der 1841 erbaute und dreißig Jahre später von dem Architekten Franz Schwechten monumental erweiterte Kopfbahnhof wurde von den Reisenden "Tor des Südens" genannt, denn von ihm fuhren die Züge bis nach Rom, Nizza und Istanbul. Auf grausige Weise ist der Anhalter Bahnhof in Erinnerung als Ausgangspunkt von Deportationen jüdischer Mitbürger in die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager während der Nazizeit.

Die Ausstellung unter freiem Himmel schildert, was es für die von den Nationalsozialisten aus rassistischen und politischen Gründen verfolgten Menschen bedeutete, Hals über Kopf ihre Heimat und damit auch Freunde und Verwandte zu verlassen und in anderen Ländern eine neue Existenz aufzubauen. Die ins Exil vertriebene, von den Nazis zudem als "undeutsch" verteufelte Dichterin Mascha Kaléko fasste ihre Empfindungen und Ängste in diesem "Inventar" genannten, und in der Ausstellung nachzulesenden Gedicht so zusammen: "Haus ohne Dach / Kind ohne Bett, Tisch ohne Brot / Stern ohne Licht: // Fluss ohne Steg / Berg ohne Seil / Fuß ohne Schuh / Flucht ohne Ziel. / Dach ohne Haus / Stadt ohne Freund / Mund ohne Wort / Wand ohne Duft. // Brot ohne Tisch / Bett ohne Kind / Wort ohne Mund / Ziel ohne Flucht."

Die Stiftung Exilmuseum Berlin hat den 1. Preis eines Architekturwettbewerbs dem Büro Dorte Mandrup Arkitekter A/S Kopenhagen für einen geschwungenen Bau zuerkannt, der die Reste des Bahnhofs umschließt und damit aufwertet und die denkmalgeschützte Anlage von einem Sportplatz im Hintergrund trennt. Die Baukosten von rund 27 Millionen Euro sollen über Spenden und private Mittel finanziert werden. Mitinitiator des Projekts, Bernhard Schultz, stellte als Anschub fünf Millionen Euro aus dem Verkauf seiner Kunstsammlung zur Verfügung.

30. Juni 2021

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