Lingua Tertii Imperii
Viktor Klemperers "Notizbuch eines Philologen" analysiert auf eindringliche Weise die Sprache des Dritten Reichs



Die Gedenktafel erinnert an einem Universitätsgebäude unweit der Berliner Museumsinsel an den jüdischen Gelehrten Victor Klemperer, der sich von den Nazis nicht kleinkriegen ließ und ein bis heute gültiges Buch über deren Sprache hinterließ.



Wie Victor Klemperer waren alle anderen Juden übler Hetze, Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt. Während des Kriegs den gelben Stern sichtbar auf der Kleidung tragen und waren durch die ihnen zudiktierten Vornamen Sarah und Israel kenntlich. Obwohl es für die äußerst riskant war, haben mutige Menschen sie bei sich versteckt und ihr Überleben in Deutschlands schlimmster Zeit ermöglicht.



Die so genannten Volksgenossen wurden aufgefordert, für den KdF-Wagen zu sparen, der ihnen nach Kriegsbeginn verweigert wurde. Als sich in der Schlacht von Stalingrad das deutsche "Kriegsglück" wendete, wurde die Volksgemeinschaft aufgerufen, fanatisch den Endsieg zu kämpfen. Der 1943 von Goebbels ausgerufene "totale Krieg" führte in die totale Katastrophe.



Dienen, gehorchen und keine Fragen stellen, das verlangte Hitler von seinen Untertanen, und das war auch das Prinzip der NS-Propaganda, die 2013 in der Berliner Topographie des Terrors analysiert wurde.





Begriffe wie Entartete Kunst, Eintopfessen, Heimatfront, Winterhilfswerk oder Volksempfänger waren in der NS-Zeit allgegenwärtig, und Victor Klemperer hat sie erläutert. Nicht alle sind nach ihrem Ende von 75 Jahren aus unserem Wortschatz verschwundne. (Fotos/Repros: Caspar)

Mit seinem 1947 und danach in weiteren Auflagen veröffentlichten Buch "LTI - Notizbuch eines Philologen" hat der Dresdner Sprachwissenschaftler und Literaturhistoriker Victor Klemperer ein Grundlagenwerk über die "Sprache des Dritten Reichs", so die deutsche Übersetzung des Titels "Lingua Tertii Imperii", und den Alltag im Nationalsozialismus geschaffen. Nach dem Verlust seiner Professur auf Grund der NS-Rassengesetze sammelte der Philologe, was ihm in der Alltagssprache, in den Medien und in Verlautbarungen aller Art begegnete. Seit seiner frühesten Jugend Tagebuch führend, hat er diese ihm so wichtige Arbeit in der Nazizeit intensiviert. "Ich notiere ein Stichwort. Aber am nächsten Tag erscheint es unwichtig, in Tatsache und Stimmung überholt. Aber die wechselnden Details des Alltags sind doch gerade das Wichtigste", trug er am 10. Oktober 1940 in sein Tagebuch ein. Wie wichtig ihm diese Aufzeichnungen sind, vertraute er LTI mit diesen Worten an: "In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischer Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen -immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht - morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders: halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt."

Die Tagebücher wurden von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, der zweiten Frau von Victor Klemperer, sowie von Christian Löser b1995 bis 1999 in mehreren Bänden unter den vielsagenden Titeln "Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten", "Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum" sowie "So sitze ich denn zwischen allen Stühlen" herausgegeben. Das von Walter Nowojski verfasste und 2004 von der Stiftung Neue Synagoge Berlin Centrum Judaicum von Hentrich & Hentrich verlegte Buch "Victor Klemperer - Romanist, Chronist der Vorhölle" enthält eine kurzgefasste Lebensbeschreibung des Literaturwissenschaftlers sowie eine Zeittafel und eine Bibliographie mit zahlreichen Publikationen von und über Victor Klemperer einschließlich von Audio-CDs und Dokumentarfilmen, die sich mit ihm beschäftigen.

"Sprache ist mehr als Blut"

Seinen durch Auswertung von Zeitungsartikeln sowie Rundfunkkommentaren, aber auch Gesprächen und aus anderen Quellen gewonnenen und in einer Art Loseblattsammlung notierten Erkenntnissen gab Klemperer das Kürzel LTI in Analogie zu den Abkürzungen, die während der Nazizeit (und nicht nur dort) in der täglichen Propaganda und in zahlreiche Organisationen im Schwange waren. Das Buch LTI mit dem von dem jüdischen Historiker und Philosophen Franz Rosenzweig übernommenen Motto "Sprache ist mehr als Blut" beginnt mit einer Widmung an seine Frau Eva Klemperer, die als "Arierin" trotz aller Verfolgung in einer "Mischehe" mit ihrem Mann verheiratet war und zu ihm unverbrüchlich in Zeiten der Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit hielt ihm allezeit eine große Stütze war.

Was unter LTI zu verstehen ist, beschrieb Klemperer so: "Sie [die LTI, H. C.] war nicht nur arm, weil sich jedermann zwangsweise nach dem gleichen Vorbild zu richten hatte, sondern vor allem deshalb, weil sie in selbstgewählter Beschränkung durchweg nur eine Seite des menschlichen Wesens zum Ausdruck brachte. [...] Die LTI ist die Sprache des Massenfanatismus. Wo sie sich an den Einzelnen wendet, und nicht nur an seinen Willen, sondern auch an sein Denken, wo sie Lehre ist, da lehrt sie die Mittel des Fanatisierens und der Massensuggestion." Ihm werde es immer das Rätsel des Dritten Reichs bleiben, wie "Mein Kampf" in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja musste, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte."

In den 36 Kapiteln befasst sich das 305 Seiten starke "Notizbuch eines Philologen", das uns in einer Ausgabe von 1957 aus dem VEB Max Niemeyer Verlag Halle (Saale) vorliegt, mit der systematischen Volksverdummung durch die vom Propagandaministerium des Joseph Goebbels reglementierten Massenmedien sowie mit einzelnen Wörtern und Wendungen, die in amtlichen Verlautbarungen, aber auch im allgemeinen Sprachgebrauch vorkommen. In dem Buch finden sich Erklärungen zu Wörtern wie Anschluss Österreichs und Ostmark, Ariernachweis, Artfremd und entartet, Bauten des Führers, Blockwart, Blut und Boden, Blutfahne und Blutzeugen der Bewegung, Braunes Heer (SA) und Schwarzes Korps (SS), Bund deutscher Mädel (BdM), Coventrieren (nach der englischen Stadt Coventry, die von deutschen Fliegern zerbombt wurde), Deutsche Christen, Drittes Reich, Einheitsliste (die es auch in der DDR gab), Eintopfessen, Endlösung, Endkampf, Euthanasie, Fanatischer Glaube, Feind hört mit, Ferntrauung, Festung Europa, Gefolgschaft, Gesundes Volksempfinden, Gleichschaltung, Gottesgericht, Gottgläubig, Großdeutsches Reich, Herrenrasse und Untermenschen, Hitlerjugend (HJ), Judenbann, Judenrein, Judenstern, Sternträger und Judenwohnungen, Heimatfront, Humanitätsduselei, Kohlenklau, Konzentrationslager, Kraft durch Freude, Mein Kampf und Kampfzeit, Menschenmaterial, Mischling, Mutterkreuz, Reichsparteitag, Rundfunkverbrechen, Sarah und Israel, Sippe und Sippenhaft, Straßen des Führers, Systemzeit, Tag von Potsdam, Totaler Krieg, Vergeltungswaffen/V-Waffen, Volksgenossen, Volkskörper und Volksgemeinschaft, Volksgerichtshof, Volkssturm, Vorsehung, Weltanschauung, Werwolf und Wunderwaffen, um einige Beispiele aus LTI und darüber hinaus aus der Alltagssprache des NS-Staates zu nennen.

Brauner Ungeist inzwischen wieder präsent

Victor Klemperer spürte braunes Gedankengut in eigentlich unverfänglichen Mitteilungen über Hochzeiten, Geburten und Todesfälle sowie Euphemismen und Tarnbezeichnungen, mit denen im Zweiten Weltkrieg militärische Rückzüge und Niederlagen kaschiert und die verzweifelte Lage des Deutschen Reiches verschleiert wurden. Wie intensiv sich Klemperer die Alltagssprache beobachtete, zeigt sich dort, wo er in LTI bemerkt, dass nach der Niederlage von Stalingrad im Lied "Es zittern die morschen Knochen" klammheimlich die Zeile "Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt" in "Denn heute, da hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt" umgedichtet und damit verharmlost wurde. Nicht alle Wörter und Wendungen, die zwischen 1933 und 1945 in "Mode" waren, stammten aus dieser Zeit, sondern kursierten schon früher, und manche wurden auch danach weiter gebraucht, als habe es nicht diese dunkelste Zeit der deutschen Geschichte gegeben. Indem Klemperer, der sich einen Namen durch seine Forschungen über deutsche und französische Literatur gemacht hatte, diese und weitere Worte in LTI dem Vergessen entreißt, hofft er, dass sie mitsamt der dahinter stehenden Ideologie und Politik für immer im Orkus der Geschichte verschwinden. Wenn wir uns in der Gegenwart umschauen müssen wir leider feststellen, dass der braune Ungeist nie ganz tot war, sondern 75 Jahre später verstärkt aus den Löchern kriecht und in bestimmten Kreisen auf fruchtbaren Boden trifft.

Nach dem Ende der Naziherrschaft fühlte sich der Gelehrte ermuntert, sich mit seinen "angeschwollenen Tagebücher" zu befassen, als er sich mit einer Berlinerin unterhielt, die "wejen Ausdrücken", das heißt wegen Beleidigung des Führers und von NS-Symbolen, im Gefängnis gesessen hatte. Da sei ihm, Victor Klemperer, die Erleuchtung gekommen. "Deswegen und daherum würde ich meine Arbeit am Tagebuch aufnehmen. Die Balancierstange würde ich aus der Masse des Übrigen herauslösen und nur eben die Hände mitskizzieren, die sie hielten. So ist dieses Buch zustande gekommen, aus Eitelkeit weniger, hoffe ich, als wejen Ausdrücken", fasst der Autor am Ende seines Buches die Motive zusammen, sich mit der Sprache des Dritten Reiches zu befassen.

Die Farbe des Neides und des bösen Blicks

Eines der Kapitel in LTI ist dem Judenstern gewidmet, den Klemperer und seine Leidensgenossen ab 1941 anlegen mussten und durch den die "Sternträger" für jeden schon von weitem erkennbar stigmatisiert und zu Außenseitern gemacht wurden. "Von da an war der Judenstern zu tragen, der sechszackige Davidstern, der Lappen mit der gelben Farbe, die heute noch Pest und Quarantäne bedeutet, und die im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des zu meidenden bösen Blicks". Der Stern mit der Aufschrift JUDE war sichtbar auf der Kleidung zu tragen. Wer ihn verdeckte und dabei erwischt wurde, hatte mit der Einweisung ins Konzentrationslager zu rechnen. Klemperer berichtete in seinem Buch von entwürdigender Behandlung durch Gestapoleute, aber auch von Zeichen der Solidarität, etwa wenn ihm ein Unbekannter zuflüsterte: "Sie kennen mich nicht, ich muss ihnen nur sagen, dass ich diese Methoden verurteile."

1935 seines Arbeitsplatzes als Professor an der Technischen Hochschule Dresden, vom Besuch der Bibliotheken ausgeschlossen, aus seiner Wohnung vertrieben, in Dresdner Judenhäusern untergebracht und, von der Gestapo beobachtet, zur Zwangsarbeit verpflichtet, blieben dem früheren Literaturprofessor Victor Klemperer und seiner Frau durch einen grausamen Zufall die Deportation als einer der letzten Dresdner Juden erspart. Denn am 13. Februar 1945, als sich das Ehepaar bei der Gestapo melden zwecks Deportation in ein Konzentrations- oder Vernichtungslager melden sollte, was man verharmlosend auch Verschickung oder Umsiedlung nannte, ging die Stadt im anglo-amerikanischen Bombenangriff unter. "Am Abend dieses 13. Februar brach die Katastrophe über Dresden herein: die Bomben fielen, die Häuser stürzten, der Phosphor strömte, die brennenden Balken krachten auf arische und nichtarische Köpfe, und derselbe Feuersturm riss Jud und Christ in den Tod; wen aber von den etwa 70 Sternträgern diese Nacht verschonte, dem bedeutete sie Errettung, denn im allgemeinen Chaos konnte er der Gestapo entkommen", beschrieb Klemperer seine Rettung.

Hineinhören in den Alltag und das Durchschnittliche

Victor und Eva Klemperer gelang auf abenteuerliche Weise die Flucht in Richtung Bayern und nach dem Ende der NS-Herrschaft die Heimkehr in das zerstörte Dresden. Der Literaturwissenschaftler blieb in der Sowjetischen Besatzungszone, aus der am 7. Oktober 1949 die DDR entstand, erhielt eine Professur erst in Greifswald, dann in Halle und schließlich in Berlin und starb 1960 in Dresden, ein umfangreiches publizistisches Werk hinterlassend. "Ich möchte gar zu gerne am Auspumpen der Jauchengrube Deutschlands mitarbeiten, dass wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde", erklärte er 1946 und tat dies im deutschen Osten, den er im Vergleich zum deutschen Westen mit seinen alsbald wieder zu neuen Ehren gekommenen Altnazis als das kleinere Übel betrachtete.

Für ihn war die Arbeit an LTI eine Art Balancierstange, an der er sich festhalten konnte und die ihn hielt. "Ich ließ mich damals nicht irremachen, ich stand ja jeden Morgen um halb vier auf und hatte den vorigen Tag notiert, wenn die Fabrikarbeit begann. Ich sagte mir: du hörst mit deinen Ohren, und du hörst in den Alltag, gerade in den Alltag, in das Gewöhnliche und das Durchschnittliche, in das glanzlos Unheroische hinein." Nach dem Ende der Naziherrschaft allerdings fragte sich Klemperer, ob es etwa Eitelkeit und Zeitvergeudung sei, wenn er sich in die "angeschwollenen Tagebücher" versenkt. Doch er wurde genau dazu ermuntert, als er mit einer Berlinerin sprach, die "wejen Ausdrücken", das heißt wegen Beleidigung des Führers und von NS-Symbolen, im Gefängnis gesessen hatte. Da sei ihm, Victor Klemperer, die Erleuchtung gekommen. "Deswegen und daherum würde ich meine Arbeit am Tagebuch aufnehmen. Die Balancierstange würde ich aus der Masse des Übrigen herauslösen und nur eben die Hände mitskizzieren, die sie hielten. So ist dieses Buch zustande gekommen, aus Eitelkeit weniger, hoffe ich, als wejen Ausdrücken", fasst der Autor am Ende seinen berühmten Buches die Motive zusammen, sich mit der Sprache des Dritten Reiches zu befassen und dies auch als Warnung für die Gegenwart und Zukunft zu begreifen.

20. August 2020

Zurück zur Themenübersicht "Alte Bücher - neu gelesen"