Im Kampf für das wahre Deutschland
Das "Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror" wurde als Tarnschrift verbreitet und sofort verboten



John Heartfield hat den Umschlag des 1933 veröffentlichten "Braunbuchs" mit Hermann Göring als blutbesudelter Henker gestaltet.



Brauner Mob verbrannte am 10. März 1933 auf dem Berliner Opernplatz im Rahmen der von Goebbels organisierten Aktion "Wider den undeutschen Geist" Bücher missliebiger Autoren. Auch darüber berichtete das Braunbuch ausführlich.



Wer den teuflischen Plan ausheckte, Ende Februar 1933 das Berliner Reichstagegebäude anzuzünden und diesen Anschlag den Kommunisten in die Schuhe zu schieben, blieb das Geheimnis von Goebbels und seinen Kumpanen. Im Inneren des bunten Kakteenhefts steckt die abgedruckte KPD-Resolution von 1935 "Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf aller Werktätigen für den Sturz der Hitlerdiktatur" zur Schaffung einer breiten Volksfront der Arbeiterklasse gegen das NS-Regime. So wurde überall im Deutschen Reich plakatiert, wer nach dem Willen der Nazis Schuld am Reichstagsbrand und überhaupt am Chaos im Land hat und dass nur sie allein Retter aus der Not sind.



Foto und Bildtext von den antijüdischen Terrormaßnahmen des NS-Regimes ist dem Braunbuch von 1933 entnommen, das 1980 als Nachdruck im Akademie-Verlag Berlin erschienen ist.



Im Triumph fuhren SA-Leute den früheren oldenburgischen Ministerpräsidenten und SPD-Reichstagsabgeordneten Bernhard Kuhnt im Schinderkarren durch die Straßen. Als "Novemberverbrecher" beschimpft, weil er beim Matrosenaufstand im Herbst 1918 eine führende Rolle spielte, war er am 9.März 1933, vier Tage nach der Reichstagswahl, verhaftet und gezwungen worden, mit anderen Kommunalpolitikern linke Wahlplakate und Parolen von Wänden abzuwaschen. Im Mai 1933 kam er in das KZ Sachsenburg, wurde ein Jahr später entlassen und zog nach Berlin, wo er als Hausmeister arbeitete, und später nach Kiel und Westensee. Kuhnt starb 1946 in der Nähe von Kiel.



Eines der ersten, noch provisorisch eingerichteten Konzentrationslager der Nationalsozialisten befand sich in Oranienburg bei Berlin. 1936 wurden im Ortsteil Sachsenhausen ein großes, von der SS kommandierten KZ und die Zentrale aller Lager dieser Art eingerichtet.



Unmittelbar nach der Errichtung der NS-Diktatur wurden überall in Berlin und im ganzen Deutschen Reich Jagd auf Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Juden und andere zu Staats- und Volksfeinden abgestempelte Personen gemacht. Im Keller einer ehemaligen Kaserne an der General-Pape-Straße unweit des heutigen Bahnhof Südkreuz in Berlin haben SA-Leute ihre ganze Wut an Regimegegnern und Juden ausgelassen. Ihre Verbrechen wurden im Braunbuch ausführlich dokumentiert.



Eine Gedenkstätte am Columbiadamm unweit des ehemaligen Flughafens Tempelhof erinnert an die vielen Menschen, die von SS-Schlägern systematisch erniedrigt und durch Folter zu "Geständnissen" gezwungen wurden. Viele Häftlinge erlagen den Misshandlungen. Wer der Hölle entkam, musste sich zu striktem Stillschweigen verpflichten und stand unter der Kontrolle der Gestapo.

Am 30. Januar 1933 wurde der Führer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP), Adolf Hitler, vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Die Weimarer Republik, 1919 nach dem Sturz der Monarchie in der Klassikerstadt gegründet, war am Ende. In rasanter Geschwindigkeit beseitigten die neuen Herren unter dem Beifall von Millionen verblendeter Menschen den Rechtsstaat. Hitler ließ sich, wie seine Steigbügelhalter hofften, nicht bändigen und neutralisieren, sondern schwang sich binnen weniger Tage mit Hilfe von Notverordnungen und brutalem Terror seiner Mord- und Schlägertruppen zum unumschränkten Diktator auf und führte Deutschland und die halbe Welt in einen schrecklichen Krieg, dessen Nachwirkungen wir bis heute spüren. Rechtsgerichtete und konservative Kräfte zeigten sich über die Ernennung Hitlers zum Regierungschef mit dem bisherigen Reichskanzler Franz von Papen als Vizekanzler und Korrektiv zwar nicht glücklich, war ihnen doch der ewig schreiende Demagoge und sein brauner Anhang unheimlich. Doch sahen sie in Hitler das kleinere Übel, und sie hofften, der Naziführer werde bald abwirtschaftet und im Orkus der Geschichte verschwinden. Wie sollten sich die Feinde der Republik um Papen und den Pressezar Hugenberg in ihrem Plan getäuscht haben, Hitler und Konsorten zu "umarmen" und ihnen dabei die Luft zu nehmen!

Der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 folgten am 1. Februar die Auflösung des Reichstags und die Festlegung von Neuwahlen am 5. März. Dann ging es Schlag auf Schlag: Einschränkung der Versammlung- und Pressefreiheit, Abschaffung der sozialdemokratischen Regierung in Preußen, dem größten Bundesland im Reich, Brand des Reichstagsgebäudes am 27./28. Februar, Erlass des so genannten Ermächtigungsgesetzes mit weitgehender Übertragung unumschränkter Regierungsgewalt an Hitler. Ungeachtet einer unvorstellbaren Propaganda für die Nazis und Verfolgung ihrer Gegner verfehlte die NSDAP bei der Wahl am 5. März die angestrebte absolute Mehrheit im Reichstag. "Was bedeuten jetzt noch Zahlen", notierte Goebbels in sein Tagebuch. "Wir sind die Herren im Reich und in Preußen, alle anderen sind zu Boden gesunken. Deutschland ist erwacht!" Und schon bereitete der Propagandachef den nächsten Coup vor, den Tag von Potsdam am 21. März 1933. Bei dem Staatsakt an den Gräbern Friedrichs des Großen und seines Vaters in der Garnisonkirche erhielt Hitler die Weihe durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Die Nazipartei durfte sich jetzt als etabliert betrachten, und Goebbels triumphierte "Ein geschichtlicher Augenblick. Der Schild der deutschen Ehre ist wieder reingewaschen. Die Standarten mit unseren Adlern steigen hoch."

Hemmungslose Hetz- und Terrorkampagne

Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933, das Verfahren gegen die von den Nazis als Attentäter bezeichneten Personen vor dem Reichsgericht in Leipzig und die Woge des Terrors und der Gewalt erregten große internationale Aufmerksamkeit. Dass die Nazis den Brand zu einer hemmungslosen Hetz- und Terrorkampagne gegen ihre Regimegegner ausnutzten, allen voran die Kommunisten und Sozialdemokraten, war unverkennbar. "Es besteht kein Zweifel, dass die Kommune hier den letzten Versuch unternimmt, durch Brand und Terror Verwirrung zu stiften, um so in der allgemeinen Panik die Macht an sich zu reißen" schrieb der bald darauf zum Propagandaminister ernannte Josef Goebbels triumphierend am 27. Februar 1933 in sein unter dem Titel "Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei" veröffentlichtes, mit vielen Lügen und haarsträubenden gespicktes Tagebuch, und die von ihm "gleichgeschaltete" Presse tat ihm nach. Als vermeintliche Brandstifter wurden der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe sowie der deutsche Kommunist Ernst Torgeler und die bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitrow, Blagoi Popow und Wassili Tanew vor dem Reichsgericht in Leipzig angeklagt. Von van der Lubbe abgesehen, mussten sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Der Holländer wurde zum Tode verurteilt und am 10. Januar 1934 hingerichtet. Erst im Dezember 2007 wurde das Urteil aufgehoben.

Der preußische Ministerpräsident und spätere Reichsmarschall Hermann Göring gab noch in der Brandnacht vom 27. zum 28. Februar 1933 die Parole aus, dass der Brandanschlag Ergebnis einer kommunistischen Verschwörung gegen das "neue Deutschland" ist. Das Nazi-Blatt "Völkischer Beobachter" sah in ihm ein "Zeichen zur Entfesselung des kommunistischen Aufstandes" und kündigte "schärfste Maßnahmen gegen die Terroristen" an. Abgeordnete sowie Funktionäre der Kommunistischen Partei sowie der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, aber auch Gewerkschafter wurden verhaftet und in die gerade erst errichteten Schutzhaft- und Konzentrationslager geworfen. Viele Menschen überstanden die ihnen dort zugefügten Torturen nicht.

Antifaschisten und Emigranten haben 1933 das "Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror" veröffentlicht. Bis kurz vor der Drucklegung mit immer neuen Enthüllungen und Augenzeugenberichten über den Terror und die Morde im Reich des Adolf Hitler sowie Auszügen aus der Presse, Erklärungen von Politikern aller Seiten und vielen Bildern von verfolgten geschundenen Menschen versehen, erschien die 383seitige Dokumentation aus Gründen der Konspiration unter der Bezeichnung "Universum Bücherei der Genossenschaft für Verlag und Vertrieb neuzeitlicher Literatur" in Basel. Im Vorwort betonen Verfasser und Verlag, es handle sich um ein deutsches Buch. "Deutsche haben es erlebt und erlitten. Deutsche haben es geschrieben. Es ist ein internationales Buch. Antifaschisten in England und Frankreich, in Holland und Amerika haben die Herausgabe des Buches unterstützt". Es wird betont, dass Albert Einstein und Lord Marley, ein einflussreicher Labourabgeordneter, und das von ihnen geführte Weltkomitee für die Opfer des Hitler-Faschismus diesem Buch ihre Hilfe geliehen haben. "Internationale Schriftsteller von hohem Rang haben durch Beiträge die Solidarität mit den Opfern des Hitler-Terrors und mit dem Kampf gegen den Hitler-Faschismus dokumentiert."

Beitrag zum Kampf gegen den Hitler-Faschismus

In seinem Vorwort beschreibt Lord Marley, dem Weltkomitee seien viele authentische Dokumente von Journalisten, Ärzten und Rechtsanwälten, von Gefolterten und Gemarterten zur Verfügung gestellt worden. "Den Hauptteil des Materials verdankt das Komitee eigenen Berichterstattern, die unter Lebensgefahr in Deutschland gearbeitet haben. Wir haben nicht die sensationellsten dieser Dokumente benutzt. Jede Feststellung, die in diesem Buch gemacht wird, ist sorgfältig geprüft worden und typisch für eine Reihe ähnlicher Verbrechen. [...] Unser Buch soll die Erinnerung an den verbrecherischen Weg der Nazi-Regierung ständig wach halten. Unser Buch ist ein Beitrag zum Kampf gegen den Hitler-Faschismus. Dieser Kampf ist nicht gegen Deutschland gerichtet. Dieser Kampf wird für das wahre Deutschland geführt."

Am 23. März 1933 stimmte der Deutsche Reichstag gegen die Stimmen der SPD dem Ermächtigungsgesetz, zu. Es setzte alle bisher geltenden bürgerlichen Rechte und Freiheiten auf unbestimmte Zeit außer Kraft und erteilte Hitler unbeschränkte Machtbefugnisse. Das in der Krolloper gegenüber dem ausgebrannten Reichstagsgebäude tagende Parlament hatte sich damit selber entmachtet. Nun konnten die SA-Schläger und die anderen Folterknechte des NS-Regimes ganz legal Jagd auf Oppositionelle, Juden und andere nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passende Menschen machen. Das Braunbuch beschreibt dies in zahlreichen Augenzeugenberichten und nennt Namen und Adressen. Im Kapitel "Misshandlungen und Folterungen" werden die Exzesse so beschrieben: "Die Naziführer haben mittelalterliche Pogrome gebracht und die Lynchjustiz, die lettres cachet [ursprünglich königliche Haftbefehle in Frankreich, H. C.] mit ihren willkürlichen Verhaftungen (Schutzhaft) und die Scheiterhaufen, das Spießrutenlaufen und die Folter ersten, zweiten und dritten Grades. Soweit es propagandistisch wirksam war, wurden die mittelalterlichen Methoden in aller Öffentlichkeit angewendet. Die Folter aber blieb geheim. Man wagte sie nur im Dunkeln der Nacht. Bis zum heutigen Tag wissen Millionen Deutsche nichts davon. Unser Buch öffnet ihnen die Augen."

Mördern wurde Straffreiheit zugesichert

Tausende Menschen wurden in die Folterstätten der SA, Polizeigefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Die Unterkunft der Feldpolizei der Berliner SA befand sich in einem während der Kaiserzeit angelegten Kasernengelände im Bezirk Tempelhof mit der Adresse Papestraße 1/4 Haus H. In der Nähe des heutigen Bahnhofs Südkreuz waren etwa 2000 Menschen aus Berlin und dem Land Brandenburg unter unbeschreiblichen Verhältnissen inhaftiert und gefoltert. Was sich dort abspielte, wird mit weitern Verbrechen dieser Art ausführlich im Braunbuch dokumentiert. Die am 24. Februar 1933 gegründete Feldpolizei der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg war eine mit Verhaftungen und Folterungen befasste Sonderformation, die später die Bezeichnung Feldjägerkorps erhielt. Da den Angehörigen dieser und weiterer Terroreinheiten von der Regierung ausdrücklich Straffreiheit zugesichert wurde, mussten sie nicht befürchten, für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden. So konnten sie ihren Blutrausch ungehindert ausleben. "Wer in Ausübung dieser Pflichten von der Schusswaffe Gebrauch macht, wird ohne Rücksicht auf die Folgen von mir gedeckt", sicherte der preußische Ministerpräsident und spätere Reichsmarschall Hermann Göring seinen Untergebenen zu und drohte ihnen zugleich mit dienststrafrechtlichen Folgen, wenn sie in falscher Rücksichtnahme versagen sollten. "Jeder Beamte hat sich stets vor Augen zu halten, dass die Unterlassung einer Maßnahme schwerer wiegt, als begangene Fehler in der Ausübung." Sinngemäß galt die Anweisung auch für die als Hilfspolizisten eingesetzten SA-Leute. Gegen einige von ihnen wegen ungeklärter Todesfälle angestrengte Untersuchungen verliefen im Sande, nur wenige Folterknechte kamen nach dem Ende der NS-Diktatur und dem Krieg vor Gericht.

Als unverdächtige Tarnschriften verbreitet

Der (Ost-)Berliner Akademieverlag brachte 1980 einen Reprint heraus, aus dem hier zitiert wird. Die Herausgeber betonen, dass das Braunbuch binnen weniger Monate in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeiterhilfe und dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands mit Hilfe linker Politiker und Schriftsteller zusammengestellt wurde. Einzelne Abschnitte stammen aus der Feder von Alexander Abusch, Rudolf Feistmann, Bruno Frei, Otto Katz (André Simone), Wilhelm Koenen, Albert Norden, Bodo Uhse, Friedrich Wolf und anderen. Die erste Auflage wurde im französischen Strasbourg (Straßburg) gedruckt. Wegen der großen Nachfrage nach dem sofort im Deutschen Reich auf den Index gesetzten Buches wurde die Ausgabe auch in Basel und Prag gedruckt. Nachgewiesen wurden laut Reprint Ausgaben in 21 Sprachen bis nach Japan und Israel.

Um das Braunbuch und andere Materialien auch im Reich des Adolf Hitler in Umlauf zu bringen, hat man es als so genannte Tarnschrift in der Reclam Universal Bibliothek mit unverdächtigen Umschlägen wie "Hermann und Dorothea", "Wallenstein" oder "Wilhelm Tell" im Satz verkleinert und auf Dünnpapier gedruckt ungeachtet der Gegenmaßnahmen der Gestapo eingeschmuggelt. "Obwohl dem Besitzer eines solchen Braunbuches schwerste Strafen angedroht und viele Antifaschisten deshalb zu hohen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt wurden, ging es durch Tausende von Händen", schreiben Lothar Berthold und Dieter Lange als Herausgeber des Nachdrucke, der dieser Betrachtung zugrunde liegt. Man hat diese und viele andere Publikationen wasserdicht in Flaschen oder Blechbüchsen, in Stoffballen, Koffern mit doppeltem Boden, Reservereifen, Filmtüten, Puddingpulverbeuteln und anderen unverdächtigen Behältern transportiert. Um die Kontrolleure zu täuschen, begann der hochbrisante Inhalt oft erst nach wenigen Seiten.

"Neuwerdung der Dinge"

Die Dokumentation lässt Naziopfer mit erschütternden Berichten zu Wort kommen, zitiert auch aus Stellungsnahmen von antifaschistischen Organisationen rund um den Globus und schildert, wie die Nazipropaganda den Reichstagsbrand und weiter Maßnahmen der neuen Regierung im Sinne von Hitler, Göring, Goebbels und anderen Größen des so genanten Dritten Reichs ausschlachtet. Das Buch war Vorbild für weitere Dokumentationen über politische Verbrechen und kriminelle Machenschaften der Nationalsozialisten. Diese Form der Enthüllungs- beziehungsweise Selbstdarstellungsliteratur wird unter dem Begriff Farbbücher zusammengefasst. Nach der Art der Umschläge nennt man sie Weiß-, Schwarz-, Rot- oder Blaubücher. In England berichten die Blue books seit 1624 über diplomatischen Aktivitäten und die Korrespondenzen zwischen dem Außenministerium und der Regierung. Da die amtlichen Veröffentlichungen zur auswärtigen Politik in Deutschland weiße Umschläge haben, nennt man sie Weißbücher.

Die "Neuwerdung der Dinge", wie Propagandaminister Joseph Goebbels formulierte, vollzog sich rasant und blutig - und fand durchaus Sympathie. Sechs Millionen Arbeitslose, allgemeine Verelendung, Unsicherheit auf den Straßen, bürgerkriegsartige Zustände, politische Attentate, unfruchtbare Redeschlachten im Reichstag, aber auch Hoffnung auf Besserung der wirtschaftlichen Misere und Abbau der Arbeitslosenzahlen und die ständig auf die Menschen prasselnde nationalistische Propaganda - man hatte die Verhältnisse am Ende der Weimarer Zeit satt und wartete auf Erlösung von den bedrückenden Auflagen des 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, abgeschlossenen Versailler Friedensvertrag und eine Neuaufstellung des Deutschen Reiches im Konzert der Völker. Dass zahlreiche Menschen in den Folterhöllen der SA gequält und ermordet wurden, dass Juden drangsaliert, verfolgt und boykottiert wurden, dass Regimegegner in den neu eingerichteten Konzentrationslagern verschwanden und dass eine nie gekannte Hetze gegen so genannte Volksfeinde und Andersartige einsetzte und die Medien "gleichgeschaltet" wurden, haben Millionen Menschen mehr oder weniger billigend in Kauf genommen. Nach dem Krieg und dem Ende des NS-Reiches hieß es dann mit Blick auf die riesigen Auflagen verbreitete Hetzschrift: "Mein Kampf verbrannt, Hitler nicht gekannt".

Der redegewandte Hitler versprach alles und jedem etwas. Durch Ernennung vom Reichspräsidenten ganz legal und nicht wie 1923 durch einen Putschversuch in München an die Macht gelangt war, beruhigte Hitler Kritiker im Ausland, die das Chaos im Reich mit Unruhe betrachteten. Jetzt würde endlich wieder Zucht und Ordnung um sich greifen, und außerdem hatte Hitler ja versprochen, sich an die Verträge zu halten, redete man sich ein. Erleichternd wirkte bei der milden Sicht auf das neue Regime dessen klare antikommunistische Stoßrichtung. Denn ein "Sowjetdeutschland", das die Kommunisten anstrebten, wurde allgemein als das größere Übel angesehen. Dass schon in den ersten Tagen nach der "Machtergreifung" eine Verhaftungswelle über das Land hinweg ging und zahlreiche Oppositionelle verhaftet und ermordet wurden, dass die Verfassung und entscheidende Gesetze nichts mehr galten, dass eine unvorstellbare Hetze gegen Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und andere "unerwünschte" Personen begann, darunter auch bekannte Künstler und Wissenschaftler, übersah man geflissentlich.

Es bleibt festzuhalten, dass Millionen Deutsche der gewaltsamen Umgestaltung des Staates, der Abschaffung von Bürgerrechten und der antisemitischen Stoßrichtung in der NS-Programmatik billigend bis begeistert folgten. Willig ließen sie sich in die von den Nazis ausgerufenen "Volksgemeinschaft" einbinden, nahmen an Massenkundgebungen teil, riefen den Slogan "Führer befiel, wir folgen dir". Sogar die Kirchen ließen sich vereinnahmen. Allerdings beteiligten sich nicht alle Geistlichen an der Hetze gegen jüdische und politisch missliebige Mitbürger. Mit der Bekennenden Kirche erwuchs den Nazis eine unbequeme Gegnerschaft, die mit Gefängnisstrafen und Redeverboten belegt, aber nicht ausgeschaltet wurde. Der so genannte Juden-Boykott unter dem Motto "Deutsche wehret euch! Kauft nicht bei Juden" am 1. April 1933 fand bei vielen Leuten ein positives Echo.

Viele Menschen schauten einfach weg

Dessen ungeachtet formierte sich Widerstand. Die bisher miteinander zerstrittenen Sozialdemokraten und Kommunisten vereinten im Untergrund ihre Kräfte. Doch die Gestapo, der allmächtige Geheimdienst, ausgestattet mit Fahndungslisten noch aus der Zeit der Weimarer Republik, schlug unbarmherzig zurück. Massenhafter Widerstand und schon gar ein Generalstreik gegen Hitler kam unter nicht mehr zustande. Die Konzentrationslager, von der Zentrale in Oranienburg geleitet, füllten sich. Dass viele Menschen einfach wegschauten, wenn ihre zu Staatsfeinden abgestempelten Nachbarn in den Gefängnissen und Folterhöllen verschwanden, gehört zu den beschämensten Erscheinungen dieser dunklen Jahre.

Im Nachwort zu dem Reprint geben die Herausgeber Auskunft über das Zustandekommen des Braunbuch und darüber, wer die wichtigsten Verfasser der einzelnen Kapitel über den Weg der Nazis zur Macht, den Reichstagsbrand und die wahren Brandstifter, die Zerstörung der legalen Arbeiterorganisationen und den Vernichtungsfeldzug gegen die Kultur und Wissenschaft, über Misshandlungen und Folterungen und die rassistischen Verfolgungen und Ausgrenzungen unter dem Motto "Juda verrecke!" sowie über die Verbrechen in den Konzentrationslagern. Das Buch endet mit Protesten aus aller Welt gegen die rechtswidrigen Maßnahmen der Hitlerregierung und der Gewissheit, dass die Standhaftigkeit der zahllosen Namenlosen, die gegen das Regime unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Freiheit kämpfen, eines Tages zum Erfolg führt. "Ihre Standhaftigkeit, ihr Mut sind nicht zu brechen. Sie stehen ein für das kommende freie sozialistische Deutschland. Sie entfachen in unerschrockener Tätigkeit immer aufs Neue die Funken, aus denen die Flamme der sozialistischen Freiheit schlagen wird." Dass die Nazidiktatur nach zwölf Jahren und einem furchtbaren Weltkrieg am Boden liegen wird, konnten die Verfasser und Herausgeber des Braunbuchs von 1933 noch nicht wissen. Im Inneren des bunten Kakteenhefts steckt die abgedruckte KPD-Resolution von 1935 "Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf aller Werktätigen für den Sturz der Hitlerdiktatur" zur Schaffung einer breiten Volksfront der Arbeiterklasse gegen das NS-Regime. So wurde überall im Deutschen Reich plakatiert, wer nach dem Willen der Nazis Schuld am Reichstagsbrand und überhaupt am Chaos im Land hat und dass nur sie allein Retter aus der Not sind. (Fotos/Repros: Caspar)

30. August 2020

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