Peinliche Enthüllungen eines SED-Renegaten: Wolfgang Leonhard brachte mit "Die Revolution entlässt ihre Kinder" Ulbricht und Genossen in Rage



Hinrichtungen auf der Guillotine bestimmten nach 1789 den Alltag im revolutionären Frankreich, bis viele Henker selber unter dem Fallbeil starben. Stalin hatte im Krieg gegen Nazideutschland Schwierigkeiten, hohe Militärposten mit kompetenten Generalen zu besetzen, denn ein paar Jahre zuvor hatte er sich auf blutige Weise ihrer entledigt.



Der aus Moskauer Exil zurückgekehrte Kommunist Wolfgang Leonhard (1921-2014) brauchte Jahre, bis er sich aus den Klauen des Stalinismus löste, 1949 auf spektakuläre Weise seinen Genossen den Rücken kehrte und prompt von diesen als Verräter und Agent des Imperialismus verurteilt wurde.



Stalinbilder aufzustellen und Stalinkult zu betreiben war schneller möglich, als in Ostberlin (und nicht nur dort) die Trümmer auf den Straßen und in den Köpfen fortzuräumen.



Die mittelalterlich anmutende "Hakeburg" in Kleinmachnow diente zeitweilig der SED als Kaderschmiede.





Die Flucht des jungen Genossen Wolfgang Leonhard 1949 in das verfeindete Jugoslawien und weiter nach Westdeutschland war ein Sakrileg ohnegleichen und veranlasste den im Haus der Einheit Torstraße 1 (das Foto oben zeigt das ehemalige Kaufhaus Jonass heute) tagenden SED-Parteivorstand (von l. n. r. Ulbricht, Grotewohl und Pieck) zu drastischen Gegenmaßnahmen und so genannten Säuberungen im Parteiapparat. (Fotos/Repros: Caspar)

Ruhm und Macht halten oft nicht lange, wer heute ganz oben steht, kann schon morgen im Gefängnis oder unter der Erde sein. Das erfuhren schmerzlich neben vielen anderen Machtmenschen und Fanatikern auch einige Häupter der französischen Revolution von 1789. Auf sie trifft das bis heute für solche Entwicklungen verwendete Schlagwort "Die Revolution frisst ihre Kinder" zu. Der Satz wird dem Politiker Pierre Vergniaud zugeschrieben. Er soll ihn gesagt haben, bevor er, als Konterrevolutionär verurteilt, im Oktober 1793 das Schafott besteigen musste und seinen Kopf verlor. Nach der Erstürmung der Pariser Bastille am 14. Juli 1789 dauerte es noch drei Jahre, bis sich Frankreich zur Republik erklärte und König Ludwig XVI. formal abgesetzt und zum "Bürger Capet" degradiert war. Vergeblich hatten Royalisten vom Exil aus sowie ausländische Mächte versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den Monarchen in seine alten Rechte einzusetzen. Doch die überwiegende Mehrheit der Franzosen hatte von der Bourbonenherrschaft und dem Schmarotzertum am Hof von Versailles genug und wünschte sich inbrünstig, dass das Motto "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" endlich Realität wird.

Auf den bisherigen, in Gefangenschaft gehaltenen König Ludwig XVI. und seine aus Österreich stammende Gemahlin Marie Antoinette kamen nach ihrer formalen Absetzung schwere Zeiten zu. In zwei Prozessen wurden sie wegen Landesverrats und Verbrechen gegen das öffentliche Wohl zum Tod verurteilt. Unter dem Jubel der Volksmassen wurde der Ex-König am 21. Januar 1793 in Paris durch die Guillotine enthauptet. Das gleiche Schicksal erlitt die wegen ihres luxuriösen Lebensstils besonders verhasste frühere Königin am 16. Oktober 1793. Die Enthauptung des Königspaars erregte in Europa großes Entsetzen. Um die Tat zu rächen und einen im Exil befindlichen Bruder des früheren Monarchen auf den französischen Thron zu setzen, zogen die damaligen Mächte gegen das republikanische Frankreich zu Felde. Da sie den Krieg nicht gewannen, mussten sie sich mit der Existenz einer Republik und ab 1804 eines von Napoleon I. geführten Kaisertums abfinden.

Stalins Schreckensherrschaft auch gegen die eigenen Leute

Schauen wir in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, dann sehen wir, dass auch dort der eingangs erwähnte, zum geflügelten Wort gewordene Satz nicht außer Kraft ist. In der Sowjetunion schaltete Diktator Josef Stalin führende Revolutionäre aus der unmittelbaren Umgebung des Staatsgründers W. I. Lenin sowie verdienstvolle Parteisoldaten und Militärs rücksichtslos aus. Die meisten noch im Leninschen Zentralkomitee tätigen Genossen wurden seit 1936 in den berüchtigten Schauprozessen angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Urteile gegen die eigenen Leute standen schon fest, als 19. August 1936 in Moskau vor dem Militärtribunal ein Verfahren gegen 16 ehemalige hohe Parteifunktionäre eröffnet wurde. Folgerichtig wurden die früheren Politbüromitglieder Lew Kamenjew, Grigori Sinowjew und weitere ehemalige Weggefährten von Stalin erschossen. Stalin beschuldigte sie, Anhänger des im Exil lebenden früheren Revolutionsführers Leo Trotzki zu sein, eines engen Kampfgefährten des Partei- und Staatsgründers W. I. Lenin, und den Untergang des Stalinschen Systems herbei führen zu wollen. Angeblich habe das "weißgardistische Gezücht" die Absicht, den Kapitalismus in der Sowjetunion wiederherzustellen. Außerdem hätten sie als Agenten westlicher Staaten antikommunistische Wühlarbeit geleistet und seien nichts als "nichtswürdige Lakaien der Faschisten".

Der krankhaft misstrauische und um seine Sicherheit und seinen Ruhm besorgte Diktator ließ die zu Volksfeinden abgestempelten Funktionäre aus den Geschichtsbüchern tilgen. Wie 20 Jahre später Stalins Nachfolger im Amt des Parteichefs, Nikita Chruschtschow, in seiner berühmten Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU erklärte, waren die Schauprozesse alles andere als dem Recht und Gesetz verpflichtet. Stalin habe Kollektivität in der Führung und in der Arbeit "absolut" nicht ertragen, stellte Chruschtschow fest, der mit jener Rede die so genannte Entstalinisierung einleitete, im Übrigen aber als enger Mitarbeiter und Vertrauter von Stalin in dessen Verbrechen verwickelt war.

Mit Ulbricht von Moskau nach Berlin

Nach 1945 schaltete der Stalinist Walter Ulbricht, der starke Mann in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise ab 1949 in der DDR, rücksichtslos Mitkämpfer aus, die nicht seiner "Linie" folgen indem er sie degradierte, aus der SED ausschließen oder ins Zuchthaus werfen ließ. Im Unterschied zu seinem großen Vorbild Josef Stalin ließ der "Spitzbart" sie aber am Leben. Erst 1971 hat Ulbrichts eigener Ziehsohn Erich Honecker diesen kalt gestellt und zur "Persona non grata" erklärt. Das gleiche Schicksal erlitten der SED- und Staatschef im Oktober 1989 nach einer Palastrevolution im Zentralkomitee und andere Führer kommunistischer und weiterer Länder. Nach dem Ende der SED-Herrschaft wurde aus dem machtvollen Ruf der Massen auf den Straßen "Wir sind das Volk" sehr schnell "Wir sind ein Volk", und nun konnte man auch an die Aufarbeitung der dunklen Kapitel in der neueren Geschichte gehen und das Innere der von der SED geleiteten Machtmaschine gehen.

Geleitet vom späteren Partei- und Staatschef Walter Ulbricht traf die nach ihm benannte Gruppe Ulbricht zwischen dem 30. April und 2. Mai 1945 mit dem Flugzeug aus dem Moskauer Exil in der noch umkämpften Reichshauptstadt Berlin ein und begann mit dem Aufbau von ostdeutschen Verwaltungen sowie mit der Überwachung und Anleitung der antifaschistischen Ausschüsse und Volkskomitees, die sich überall in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) gebildet hatten. Unter den Genossen, die kraftvoll anpackten und den Menschen damals ideologische Hilfe zuteil werden ließen, war der junge Kommunist Wolfgang Leonhard. Er hatte seine Kindheit und Jugend mit seiner Mutter im sowjetischen Exil zugebracht und sich als "Kursant" eifrig in die kommunistische Ideologie eingearbeitet und in sich aufgesogen.

Spektakuläre Flucht nach Jugoslawien

Viele Genossen hielten es in der Umgebung des Dogmatikers und Machtmenschen Ulbricht und seinen Freunden lange nicht aus. Wie es in der SED-Parteihochschule und darüber hinaus zuging und was diskutiert wurde, hat der ehemalige Ex-Kommunist Wolfgang Leonhard aus eigenem Erleben in dem mehrfach aufgelegten Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" eindrucksvoll geschildert. Es erschien 1955 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln und erlebte zahlreiche Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter nach dem Untergang der Sowjetunion auch in die russische Sprache. Selbstverständlich waren das autobiographische Werk und weitere Bücher dieser Art in der DDR verboten, und wer sich mit ihnen erwischen ließ und über sie sprach, bekam es mit der Justiz und der Staatssicherheit zu tun. Denn das, was Leonhard über seinen Lebensweg vom gläubigen Parteisoldaten zum "Renegaten", wie seine bisherigen Genossen nach seiner spektakulären, von Helfern unterstützten Flucht im März 1949 über die Tschechoslowakei nach zum kommunistischen "Erzfeind" Jugoslawien und von dort in den deutschen Westen abfällig sagten, war für Ulbricht und seine Leute Verrat und kaum erträglich.

1921 als Wladimir Leonhard in Wien geboren, kam Wolfgang Leonhard 1935 mit seiner Mutter in die in die Sowjetunion, die in diesen Kreisen als Vaterland aller Werktätigen galt und von der behauptet wurde, ihr und nur ihr allein gehöre die Zukunft. Während die Mutter dem Stalinschen Terror zum Opfer fiel und in eines von seinen vielen Arbeitslager in Sibirien eingewiesen wurde, blieb der Sohn in Moskau und wurde in einer Kaderschule zum Kommunisten erzogen. Bei seinen Fahrten und Aufenthalten im Reich des Josef Stalin sah Leonhard viel Glanz und noch mehr Elend, die bei ihm erste Zweifel aufkommen ließen. Wer darüber hinaus wissen möchte, wie es in der Kominternschule zuging und wie dort "politisches Sektierertum" bekämpft wurde und Genossen zur Selbstkritik genötigt wurden, während andere einfach "verschwanden", findet in Leonhards Buch viele interessante Angaben. Das gilt auch für seine Arbeit während des Zweiten Weltkriegs im Nationalkomitee Freies Deutschland und seine Eindrücke von Walter Ulbricht, der dort das Sagen hatte. Seine erste Begegnung mit dem späteren Partei- und Staatschef hinterließ einen merkwürdigen Eindruck. Denn der deutsche Spitzenfunktionär, mit dem Leonhard quasi Tür an Tür arbeitete, verlangte und bekam einen größeren, seiner Bedeutung gemäßen Schreibtisch. Dessen selbstherrliches Gebaren zu beobachten, hatte Leonhard nach dem Krieg noch öfter Gelegenheit.

Die Mutter kritisiert den Sohn

Mutter Susanne Leonhard, eines der vielen Opfer der stalinistischen "Säuberungen", sah der junge Leonhard erst nach dem Krieg und dem Ende der Naziherrschaft und in einer Zeit des Aufbruchs und neuer Hoffnung wieder. Nach der Veröffentlichung von "Die Revolution entlässt ihre Kinder" und der Ausstrahlung eines Fernsehdreiteilers kam es laut Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL Heft vom 20. Juni 1962 zu einem heftigen Disput zwischen Mutter und Sohn. In seinem Buch habe Wolfgang "skrupellos Tatsachen (verfälscht), wenn er es für opportun hält, andere Leute, beispielsweise auch die eigene Mutter, politisch und menschlich zu diffamieren", behauptete Susanne Leonhard hat ihre eigene Kampfes- und Leidensgeschichte in den Büchern "Gestohlenes Leben. Schicksal einer politischen Emigrantin in der Sowjetunion. (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1956, Neuausgabe 1988) und "Fahrt ins Verhängnis. Als Sozialistin in Stalins Gulag." (Freiburg im Breisgau 1983, eine überarbeitete Fassung des Titels "Gestohlenes Leben") beschrieben.

Bislang habe sie aus rein menschlichen Erwägungen dem Sohn nur privatim Vorhaltungen gemacht. Nach dem Fernsehspiel aber sei es Zeit, öffentlich gegen das Buch ihres Sohnes zu protestieren, denn "ich bin keine gewöhnliche Mutter; ich bin ein politischer Mensch." Die Kritik sei hier erwähnt um zu zeigen, dass es auch andere Meinungen über den Bestseller gab. Von der eigenen Mutter zu hören, er habe absichtlich seine Biographie geschönt und andere, vor allem sie, in schlechtem Licht dastehen lassen, wiegt schwer. Inwieweit die Vorhaltungen stimmen, kann hier nicht entschieden werden. Der NDR, der das Fernsehspiel damals ausgestrahlt hatte, sah sich zu Korrekturen nicht veranlasst, sondern räumte im Vorspann ein, dass die Fernsehmutter nicht identisch mit Wolfgang Leonhards richtiger Mutter ist.

Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, Oben und Unten

Der junge Genosse Wolfgang Leonhard hatte einen guten Ruf als zuverlässiges Mitglied der KPD beziehungsweise seit 1946 der SED. Als kenntnisreicher Propagandist des Marxismus-Leninismus wirkte am Wiederaufbau in der SBZ mit, die sich am 7. Oktober 1949 als DDR etablierte. Bei seinen Fahrten durch das noch ganz vom Wohl und Wehe der Sowjetischen Besatzungsmacht abhängige Land und Gesprächen mit Funktionären und mit einfachen Leuten sah der Verfasser von Schulungsheften und Propagandamaterialien immer deutlicher die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, Oben und Unten. Zwar galt in diesen Kreisen das Prinzip "Kritik und Selbstkritik". Doch wer das Tun und Denken der "führenden Genossen", ihren Dogmatismus und ihre Selbstversorgung mit Lebensmittelpaketen, den so genannten Pajoks, mit einträglichen Posten, Wohnungen und Kleidung einer kritischen Sicht unterzog und sich darüber mit anderen austauschte, musste um seine Freiheit und Arbeitsstelle fürchten und wurde als Parteifeind gemaßregelt. Leonhard durchschaute das üble Spiel und überwarf sich mit der ganz auf die stalinistische Sowjetunion orientierten SED. Deren vergleichsweise luxuriöses Leben in der "Städtchen" genannten Funktionärssiedlung Niederschönhausen im Ostberliner Bezirk Pankow lernte er bei regelmäßigen Besuchen kennen und nach und nach verachten. Im Westen sagte man niemals DDR, sondern nur Zone oder Pankow.

Seine Flucht, die am Beginn und am Ende des Buches "Die Revolution entlässt ihre Kinder" beschrieben wird, führte nicht zufällig nach Jugoslawien, das wegen der dort herrschenden "Abweichler" mit Staats- und Parteischef Tito an der Spitze von den Ostblockstaaten als Todfeind betrachtet wurde. Wer als "Titoist" angeprangert wurde, und das war Leonhard nach dessen spektakulärer Flucht auch, war des Teufels. Nachdem er sich in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen hatte, verarbeitete er seine Erlebnisse im Land des Josef Stalin und nach 1945 in der DDR als Mitglied des Parteiapparats in dem genannten Buch und weiteren Publikationen. Er erhielt in den eine Geschichtsprofessur und entwickelte sich zu einem führenden Kenner der Sowjetunion, der DDR und des Kommunismus. Bis zu einem Tod war der Warner und Mahner mit der auffälligen Haartolle und markanten Stimme immer mal wieder auch in Talkshows des Fernsehend und Filmen zu sehen, die sich mit dem Stalinismus und DDR-Geschichte befassen.

Auslöser der Flucht war, wie Leonhards am Beginn seines Buches schreibt und dann später weiter ausführt, dass er einigen Dozenten und Kursanten, also Kursteilnehmern an der Parteihochschule (PHS) der SED Materialien der jugoslawischen Kommunisten zum Lesen gegeben hat. Der Sitz der Kaderschmiede befand sich zunächst in Liebenwalde, seit 1948 in der Hakeburg in Kleinmachnow und ab 1955 im Haus am Köllnischen Park unweit des Märkischen Museums in Berlin-Mitte. "Wie sehr musste die SED-Führung diese Materialien fürchten, wenn sie sich zu so außerordentlichen Maßnahmen gezwungen fühlte." Und diese bestanden nach Leonhards Flucht in peinlichen Untersuchungen in der Parteihochschule und der Auflösung der von ihm geführten Klasse sowie in Maßregelungen einiger Kursteilnehmer, nur weil sich Leonhard sie für ein weiterführendes Studium empfohlen hatte. Dass sich ein junger Funktionär, der zehn Jahre in der Sowjetunion gelebt, erzogen und ausgebildet worden war, durch Flucht gegen seine Parteiführung vorgeht, konnte nur die Tat eines gewissenlosen Renegaten und Agenten gewesen sein, und es wurden alle Vorkehrungen getroffen, dass sich dieses Beispiel nicht wiederholt. Dass diese Erwartung eine Illusion war, zeigen spätere "Fälle" von Genossen, die sich nicht länger bevormunden lassen und eigenes Denken nicht verbieten lassen wollten. Doch das wird in Leonhards Buch nicht mehr angesprochen, das ist in anderen Büchern nachzulesen, auch solchen aus seiner Feder.

25. August 2020

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