"Deutsche Hörer": Was Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs seinen Landsleuten aus dem Exil zurief



Bereits 1930 hat sich Thomas Mann - in der Mitte ein Foto des Literaturnobelpreisträgers von 1929 - in der "Deutschen Ansprache" vor der Gefahr des Faschismus gewarnt, was ihn zu einem der Hassobjekte der Nationalsozialisten machte. Die ersten 25 von insgesamt 55 Ansprachen wurden 1942 mit einem Vorwort von Thomas Mann veröffentlicht.





Das Abhören ausländischer Sender wurde im Reich des Adolf Hitler schwer geahndet. Rote Warnhinweise waren überall zu lesen. Das Thema wird im Deutschen Technikmuseum durch Geräte, Plakate, Fotos und Todesurteile dokumentiert.





Was sich hinter dem Tor des Vernichtungslagers Auschwitz mit dem zynisch gemeinten Motto "Arbeit macht frei" und in anderen Orten des Todes und des Terrors abspielte und was von den dorthin deportierten Menschen übrig blieb, war den Deutschen und dem Ausland und so auch Thomas Mann in Umrissen bekannt. Früher als andere prangerte er in seinen Radioansprachen die Gräuel an und erklärte, die Verbrechen würden auf die Verbrecher zurück schlagen.





Das barocke Buddenbrookhaus in Lübeck ist eine Pilgerstätte für Literaturfreunde aus aller Welt und für diejenigen, die wissen möchten, wie die Familie Mann gelebt haben und was die berühmten Schriftstellerbrüder Thomas und Heinrich geschaffen haben. Links eine Collage mit historischen Familien- und Gebäudefotos. Der berühmte Stammsitz der Familie Mann und Romanschauplatz des Jahrhundertbestsellers "Buddenbrooks" in der Mengstraße 4 wird bis 2024 umfassend erneuert. Das Museum wird um ein Nachbargrundstück erweitert und kann so seine Ausstellungsfläche verdoppeln.



Zwar wurde 1945/6 den Hauptkriegsverbrechern wie hier Reichsmarschall Hermann Göring auf einer Karikatur von David Low in Nürnberg der Prozess gemacht, der mit Todes- und hohen Zuchthausstrafen endete, aber die große Masse von Hitlers blutbesudelten Helfern kam zumindest im deutschen Westen ziemlich ungeschoren davon. Die auch von Thomas Mann verkündete gerechte Strafe und Vergeltung blieb in der Regel aus. (Fotos/Repros: Caspar)

Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann besaß und besitzt in der deutschen und internationalen Kulturszene einen hervorragenden Namen. Das hinderte die 1933 an die Macht gelangten Nationalsozialisten nicht, ihn auszubürgern und seine Werke auf den Index zu setzen. Erst im schweizerischen Exil, dann in den USA lebend, war der aus einer wohlhabenden Lübecker Patrizierfamilie stammende Schriftsteller an den Vorgängen im so genannten Dritten Reich brennend interessiert. Im Herbst 1940 fragte ihn der britische Sender BBC, ob er zu seinen deutschen Landsleuten sprechen und die Kriegsereignisse sowie die Nazi-Verbrechen kommentieren würde. Mann nahm den Auftrag ohne zu zögern an. Seine monatlichen Ansprachen wurden anfangs nach London gekabelt und dort von einem Sprecher verlesen. Um aber ihre Authentizität zu unterstreichen, hat der Autor sie schon bald in den USA auf Schallplatten gesprochen. Diese Tonaufnahmen wurden mit dem Flugzeug nach England gebracht und von dort ausgestrahlt. Die Ansprachen reichen von 1940 bis 1945. Sie wurden 1972 in der 900. Folge der Insel-Bücherei Leipzig als Lizenzausgabe des S. Fischer Verlags Frankfurt am Main mit einem Nachwort von Eike Middell publiziert und sind auch in anderen Ausgaben zu finden.

Appelle an Vernunft und Warnungen vor dem Faschismus

Bereits 1930 hatte sich Thomas Mann in seinem bis heute kontrovers diskutierten Essay "Bruder Hitler" mit dem gescheiterten Maler, redegewandten Rassenhetzer und späteren Diktator auseinandergesetzt, nicht ahnend, dass dieser mit seinen Kumpanen unter jubelnder Zustimmung der Masse der Deutschen drei Jahre später eine blutige Schreckensherrschaft errichten und ihn, den Literaturnobelpreisträger, ins Exil treiben wird. In seiner von Nazischlägern gestörten "Deutschen Ansprache - Ein Appell an die Vernunft" am 17. Oktober 1930 in Berlin warnte der Schriftsteller vor der Gefahr des Faschismus und reagierte auf die Reichstagswahlen im September 1930. Bei ihnen konnte die NSDAP mit 18,3 Prozent ihren Stimmenanteil versiebenfachen und war nach der SPD die zweitstärkste Fraktion. Den rasanten Zulauf für die NSDAP erklärte Mann damit, dass die Partei des Adolf Hitler, "auf militanteste und schreiend wirksamste Art die nationale Idee mit der sozialen zu verbinden sucht."

Thomas Manns pointierte Analysen ab 1940 der politischen Lage von Nazideutschland und das Geschehen an den Fronten dauerten anfangs fünf Minuten, wurden aber bald auf acht Minuten verlängert. Eine erste Sammlung der 25 Sendungen wurde 1942 veröffentlicht, eine zweite umfasste 55 Texte. Im Vorwort zur Ausgabe von 1942 stellt der Autor mit Blick auf die Folgen des Ersten Weltkriegs und den aktuell tobenden Zweiten Weltkrieg fest: "Woran ich unverbrüchlich glaube, das ist, dass Hitler seinen Krieg nicht gewinnen kann. [...] Der Krieg hat eine düstere Vorgeschichte, deren bestimmende Momente keineswegs tot sind, sondern untergründig fortwirken und mit dem Frieden den Sieg gefährden. Wir werden den Krieg verlieren, wenn wir einen falschen Krieg führen und nicht den rechten, der ein Krieg der Völker für ihre Freiheit ist."

Nazis ahndeten "Rundfunkverbrechen" erbarmungslos

Wer in Nazideutschland und den von der Wehrmacht besetzten Ländern beim Abhören von "Feindsendern" wie BBC oder Radio Moskau erwischt wurde, war wegen des Todes. Zahlreiche Gerichtsverfahren wegen "Rundfunkverbrechens" endeten für die Angeklagten ohne Erbarmen am Galgen oder auf dem Schafott. Wer Thomas Mann und all den anderen Sendungen ausländischer Rundfunkstationen zuhören wollte, konnte das nur geheim in absolut sicherer Umgebung tun und musste sich davon überzeugen, dass kein Gestapospitzel in der Nähe ist. Dennoch haben sich viele mutige Menschen über das Verbot hinweg gesetzt und heimlich auch den Sendungen stets mit der Anrede "Deutsche Hörer!" gelauscht. Zwar deutet Mann in einer seiner Ansprachen an, dass er Rückmeldungen bekommen hat. Doch lässt sich nicht genau sagen, wie sie auf die Deutschen gewirkt haben und der mehrfach wiederholte Aufruf "Zur Hölle mit diesem Führer" und seine Forderung "Friede, Friede, Freiheit" und "Deutsche rettet euch" vom Widerstand aufgegriffen wurde. Dass die Ansprachen von den Nazis wahrgenommen werden, kommentierte Mann mit dem Hinweis, Hitler habe ihn in einer Bierkellerrede in München als jemanden beschimpft, der die Deutschen gegen ihn und sein System aufzuwiegeln versucht.

Seine Ansprachen begriff Thomas Mann als Dienst an Deutschland, als Sendungen zur Verbreitung der Wahrheit und als Warnung. Er stützte sich auf Informationen in den amerikanischen Medien sowie Berichte von Exilanten und in Dokumenten, die ihm der Sender zur Verfügung stellte. Er beschreibt, wie die Welt aussieht, wenn Hitler siegen sollte, und sagt sofort, dass das niemals eintreten wird. "Hitler prahlt, sein Reich sei bereit zu einem zehn-, ja zwanzigjährigen Kriege. Ich nehme an, dass Ihr Deutsche euch euren Teil dabei denkt - zum Beispiel, dass in Deutschland nach einem Bruchteil dieser Zeit kein Stein mehr auf dem andern wäre."

"Moral Bombing" zeigte nicht die erhoffte Wirkung

In der Serie "Deutsche Hörer" prangerte Thomas Mann an, dass Juden und andere Gefangene von den Nazis in den Vernichtungslagern mit Giftgas und auf andere Weise ermordet werden, und wie bewaffnete Verbrecher, sich als Krone der germanischen Herrenrasse fühlend, in den besetzten Gebieten wüten und ihre Opfer in Massengräbern verscharren. Er beschreibt die Auswirkungen des Bombenkriegs auf deutsche Städte, bei denen er, so seine vorsichtige Formulierung, sein Sinn für Gerechtigkeit noch auf eine besondere Probe gestellt war. Das von den Briten und Amerikanern praktizierte "Moral Bombing" auf deutsche Städte zuletzt im Frühjahr 1945 auf Dresden, Würzburg und Potsdam, hatte nicht die Wirkung, denn der massenhafte Abwurf von Fliegerbomben brachten die Deutschen nicht dazu, wie erhofft, dass sie sich gegen ihre Kriegstreiber und Unterdrücker mit dem Hakenkreuz am Ärmel erhoben.

Beim Bombardement auf seine Heimatstadt Lübeck erwähnt er, dass das lange von den Manns bewohnte Buddenbroockhaus in der Mengstraße, zugleich Schauplatz seines Romans "Buddenbroocks", von den Nazis nach einem Lübecker Bürgermeister in Wullenweberhaus umbenannt wurde, um die Erinnerung an die Familie Mann und die Schriftstellerbrüder Thomas und Heinrich Mann zu tilgen. Thomas Mann erwähnt, dass der neue Namensgeber vor langer Zeit der Stadt Lübeck durch einen Krieg mit Dänemark großen Schaden zugefügt und ein schlimmes Ende gefunden hat. Hitler-Deutschland habe weder Tradition noch Zukunft, und Zerstörung werde es erleiden", ist der Redner überzeugt und fordert seine Landsleute auf, "statt tödlichen Hasses die Liebe der Völker zu gewinnen."

In der Ansprache vom September 1941 zitiert Thomas Mann Johann Wolfgang von Goethe, der "das Hitlerabenteuer im voraus verdammte", mit diesem auf Napoleon Bonaparte und seine Epigonen gemünzten Gedicht: "Verflucht sei, wer nach falschem Rat / Mit überfrechem Mut / Das, was der Korse-Franke tat, / Nun ein Deutscher tut! / Er fühle spät, er fühle früh, / Es sei ein dauernd Recht; Ihm geh es, trotz Gewalt und Müh, / Ihm und den Seinen schlecht!" Dass Hitlers Wehrmacht in den Weiten der Sowjetunion ein ähnliches Desaster erleben würden wie die "Grande Armée" des französischen Kaisers war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

"Gott im Himmel, vernichte ihn!"

Für Thomas Mann, den Inhaber auch eines amerikanischen Passes, ist Franklin D. Roosevelt der Antipode des "Ich-Menschen" Adolf Hitler, der aus der Welt ein Konzentrationslager machen und sich zum Herrscher der Welt aufschwingen will und mit dem es niemals Frieden geben wird. Seine Hoffnung liegt auf dem 32. US-Präsidenten, und so stimmt er freudig zu, als sich die Vereinigten Staaten ganz praktisch an die Seite der Anti-Hitler-Koalition stellen. Den Menschen im fernen Deutschen Reich rechnet der Redner vor, wer alles auf der einen, der guten Seite kämpft und wie verzweifelt die Lage auf Hitlers Seite beschaffen ist. "Gott im Himmel, vernichte ihn!" ruft Thomas Mann im Dezember 1942 am Ende seiner Ansprachen seinen Zuhörern zu. Er betont, dass die anfänglichen Siegesmeldungen die Augen seiner Landsleute vernebeln, aber er ist sich sicher, dass sie irgendwann klar erkennen, welchen Verbrechern sie gefolgt sind und folgen. Der jetzt tobende Krieg habe schon 1933 begonnen, als im Deutschen Reich die Menschenrechte und "alle sittlichen Errungenschaften des Menschen seit Jahrtausenden" abgeschafft wurden.

Im März 1941 rief Thomas Mann seinen Landsleuten mit der warnenden Stimme eines Freundes, mit der Stimme eines Deutschland, "das der Welt ein anderes Gesicht zeigte und wieder zeigen wird als die scheußliche Medusenmaske, die der Hitlerismus ihm aufgeprägt hat", zu, dass der Sieg über die Nazidiktatur kommen wird. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass die irrwitzige Eskalation des Zweiten Weltkriegs erst noch bevor steht. Der Überfall auf die Sowjetunion, mit der das Deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt, März 1941, noch durch einen Freundschafts- und Militärpakt verbunden war, stand erst noch bevor. Auch dass die Nationalsozialisten beschlossen haben, die Judenfrage einer "Endlösung" zuzuführen und elf Millionen Juden quer durch die von der Wehrmacht besetzten Länder Europas planmäßig und kaltblütig zu ermorden, konnte der deutsche Emigrant nicht wissen. Am Jahrestag der Zerstörung von Coventry durch deutsche Fliegerbomben fragt Mann im April 1942, ob man denn in Deutschland bedacht habe, eines Tages "für die Untaten, die sein Vorsprung in der Barbarei ihm gestatte" bezahlen zu müssen. Die Luftangriffe auf deutsche Städte seien Teil dieser erwartbaren Reaktion."

Letzten Kampf auf verlorenem Posten

Die schrecklichen Dinge, die die deutschen Hörer aus dem Mund von Thomas Mann erfuhren, ließen sie erschauern, und viele wussten, dass die Sieger mit den Besiegten nicht zimperlich umgehen werden. Am 1. Januar 1945 sagte der Redner am Radio, als sich Hitler und seine Truppen zu ihrem letzten Kampf auf verlorenem Posten aufraffen und unzählige Menschen auf allen Seiten in den Tod reißen. "Werdet ihr mir glauben, wenn ich euch versichere, dass diese Siege, sofern man sie so nennen kann, genau so hohl, sinn- und hoffnungslos sind wie die früheren? Es gibt keinen Nazi-Sieg. Alles, was so aussieht, ist blutiger Unsinn, ist im Voraus annulliert." Am 14. Januar 1945 fragte Mann seine Hörer: "Weißt du, der mich jetzt hört, von Majdanek bei Lublin in Polen, Hitlers Vernichtungslager? Es war kein Konzentrationslager, sondern eine riesige Mordanlage. Da steht ein großes Gebäude aus Stein mit einem Fabrikschlot, das größte Krematorium der Welt." Mann beschrieb seinen Hörern und der Welt, was Vertreter der Schweizer Flüchtlingshilfe in den Vernichtungslagern Auschwitz und Birkenau sahen - all die Menschenknochen, Kalkfässer, Chlorgasröhren und die Verbrennungsanlagen, die Haufen von Kleidern und Schuhen, "viele kleine Schuhe von Kindern, wenn du, deutscher Landsmann, du, deutsche Frau, es hören magst."

Viele Hörer mögen hinter fest verschlossenen Türen die warnende Stimme im Radio vernommen und erkannt haben, dass es für das zertrümmerte Deutschland nur dann eine Zukunft gibt, wenn sich seine Bewohner mutig und rückhaltlos der Aufklärung der Verbrechen der Nationalsozialisten stellen und den eigenen Anteil an der Schuld bekennen. Am 10 Mai 1945, zwei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst, sprach Thomas Mann die Hoffnung aus: "Möge die Niederholung der Parteifahne, die aller Welt ein Ekel und Schrecken war, auch die innere Absage bedeuten an den Größenwahn, die Überheblichkeit über andere Völker, den provinziellen und weltfremden Dünkel, dessen krasserster, unleidigster Ausdruck der Nationalsozialismus war. Möge das Streichen der Hakenkreuzflagge die wirkliche, radikale und unverbrüchliche Trennung alles deutschen Denkens und Fühlens von der nazistischen Hintertreppen-Philosophie bedeuten, ihre Abschwörung auf immer".

Vor 75 Jahren war vielen von der ewigen Last des Krieges und der Angst befreiten Menschen klar, dass das zertrümmerte Deutschland nur dann eine Zukunft hat, wenn sich seine Bewohner mutig und rücksichtslos der Aufklärung der Verbrechen der Nationalsozialisten stellen und sich zu den eigenen Verstrickungen bekennen. Das allerdings geschah in beiden deutschen Staaten vielfach nur unzureichend und widerwillig. Während in der DDR der Antifaschismus Staatsdoktrin war und ihre Bewohner jede Mitverantwortung an den Verbrechen in den Jahren 1933 bis 1945 von sich wiesen, tat sich die Bundesrepublik mit der "Aufarbeitung der Vergangenheit" schwer. Dort konnten ehemalige, mit "Persilscheinen" ausgestattete Nazis und Kriegsverbrecher nach kurzer Anstandspause neue Karrieren in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildungswesen und andern Bereichen starten. Dass es heute Leugner des Holocaust gibt und verbohrte Neonazis Anschläge verüben und missliebigen Personen Drohschreiben mit der Unterschrift "Heil Hitler" und NSU 20 zuschicken, gehört zu den bedrückenden Gedanken, die Leserinnen und Lesern von "Deutsche Hörer!" beschleichen.

20. August 2020

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