Blick in eine furchtbare Zukunft: Orwells "1984" war wegen offensichtlicher Parallelen im kommunistischen Herrschaftsbereich verboten



Wer in der DDR "1984" las und das dort verbotene Buch weiter gab, bekam es mit der Justiz und der Stasi zu tun. Selbstverständlich wies Erich Mielke, der Chef des "Liebesministeriums" alle Vergleiche mit dem Unterdrückungs- und Spitzelapparat in Orwells Zukunftsroman von weit sich.



"Der Große Bruder sieht dich an", er ist überall, du kannst ihm und seinen Häschern nicht entkommen. Das haben die Bewohner von Ozeanien zutiefst verinnerlicht, und die meisten taten gut, in Deckung zu gehen und zu freudig tun, was ihnen befohlen ist. Doch manche fügten den Befehlen von oben nicht.



Manch ein DDR-Bürger beschaffte sich "1984" und fand viele Parallelen in dem von der allwissenden SED beherrschten Arbeiter-und-Bauern-Staat. Der Fall des wegen des Besitzes des verbotenen Buches verurteilten Druckers Baldur Haase ist in der ständigen Ausstellung des früheren Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg dokumentiert.



"1984" wurde als eine in die Zukunft verlegte Abrechnung mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und seinen Verbrechen verstanden. Der "in der Wolle gefärbte" Stalinist Walter Ulbricht, bis 1971 SED- und Staatschef in der DDR, dürfte das Buch gekannt haben, das sein Sicherheitsapparat verbissen als geistige Konterbande aufspürte. Ulbricht gibt auf diesem Foto Lüge als Wahrheit aus, als er im Sommer 1961 behauptete "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen", was ihm den spöttisch gemeinten Namen "Genosse Niemand" eintrug. (Fotos/Repros: Caspar)

In seinem berühmten Roman "1984" schaut der englische Schriftsteller George Orwell (Eric Arthur Blair) in eine menschenfeindliche Zukunft und schildert Verbrechen im totalen Überwachungsstaat, der einem das Herz gefrieren lässt. Das 1950 kurz vor Orwells Tod erschienene Buch spielt im fiktiven Land Ozeanien, in dem eine winzige Oberschicht mit Hilfe von ausgeklügelten Manipulations-, Terror- und Unterdrückungsmechanismen und skrupellosen Helfern und Denunzianten die große Masse in Angst, Schrecken und Unwissenheit hält. Öffentliche Hinrichtungen werden als Volksfeste gefeiert, Brutalität und Menschenverachtung sind allgegenwärtig, täglicher Terror ist Normalität. Um das gleichgeschaltete Volk, um einen Begriff aus der Nazizeit zu benutzen, bei Laune und in Bewegung zu halten, werden Hasspredigten gegen imaginäre Feinde gerichtet. Sicherheitskräfte sind derweil unterwegs, um von die von "oben" angeordnete Norm abweichende Gedanken aufzuspüren und staatsfeindliche Handlungen im Keim zu ersticken. Kinder werden angehalten, ihre Eltern auszuspionieren und an die Gedankenpolizei zu verraten, was ihnen als gute Tat für das Land hoch angerechnet wird. Wer sich dem allgegenwärtigen "großen Bruder" verweigert, wer das Spiel durchschaut und sich verweigert, lebt gefährlich, und manch einer verschwindet auf Nimmerwiedersehen, wird gehenkt oder vaporisiert, also verdampft. Wer in der DDR "1984" las und das dort verbotene Buch weiter gab, bekam es mit der Justiz und der Stasi zu tun. Selbstverständlich wies Erich Mielke, der Chef des "Liebesministeriums", alle Vergleiche mit dem Unterdrückungs- und Spitzelapparat in Orwells Zukunftsroman, der doch auch aktuelle Gefahren beschreibt, weit von sich.

Die einen sind gleicher als die anderen

Wie viele linke Intellektuelle hatte George Orwell Mitte der 1930-er Jahre am Spanischen Bürgerkrieg gegen die Truppen des faschistischen Generals Francisco Franco teilgenommen. Dort verwundet, veröffentlichte er in der Folgezeit ein Buch über seine Erlebnisse und wurde mit zunächst mäßigem Erfolg Schriftsteller. Der literarische Durchbruch gelang 1945 seinem Buch "Farm der Tiere", das sich mit dem Scheitern der russischen Revolution und den Verbrechen des Stalinismus befasst und in dem sich das geflügelte Wort findet, wonach alle Tiere gleich und einige gleicher sind. Wie "1984" wurde auch "Farm der Tiere" im Kampf gegen den Kommunismus instrumentalisiert, was dazu führte, dass Orwell in der östlichen Hemisphäre eine Unperson und Hassfigur war und seine als feindlich-negativ eingestuften Bücher auf den Index kamen, also auf das Verzeichnis verbotener Bücher. Wer sie lesen wollte, konnte dies nur nach Vorlage einer schwer zu beschaffenden Genehmigung in einem separaten Raum der Staatsbibliothek zu Berlin oder in einer ähnlichen Büchersammlung tun. Wer dort einfach nur nach "1984" fragte, machte sich verdächtig und ließ den ostdeutschen Sicherheits- und Spitzelapparat rotieren.

Wer in Ozeanien einst Einfluss und Ansehen genoss und dann aus irgend einem Grund in Ungnade gefallen ist, dessen Andenken wird aus den Medien und den Geschichtsbüchern getilgt und verfällt, wie schon in der Antike beziehungsweise zu Hitlers und Stalins Zeiten, der "Damnatio memoriae", der Tilgung der Erinnerung. Ganze Heerscharen von Schreibern und Druckern produzieren ständig neue Bücher und Zeitungen, in denen die ständig aktuellen Wendungen der Politik verbreitet werden. Obwohl die Versorgung mit dem Allernötigsten miserabel ist, wird den Menschen weisgemacht, ihnen würde es an nichts fehlen.

Winston Smith hegt falsche Gedanken

In diesem Land gelten keine Werte - Religion und die Errungenschaften der Aufklärung sind passé, demokratische Mitbestimmung ist abgeschafft, Wahrheit verkommt zur Lüge, Verrat ersetzt die Liebe. Das Leben hat keinen Wert, Wohlstand wird zur Armut und Wissen zur Gefahr. Nur wenige Leute in Ozeanien durchschauen das System der Manipulation und Terrorisierung. Einer von ihnen ist der Mitarbeiter des "Wahrheitsministeriums" Winston Smith. Da er Tagebuch führt und "falsche Gedanken" hegt, begibt er sich in Lebensgefahr und wird zum Beobachtungsobjekt der Gedankenpolizei. "Einer Zukunft oder einer Vergangenheit, in der Gedankenfreiheit herrscht, in der Menschen voneinander verschieden sind und nicht jeder für sich lebt - einer Zeit, in der es Wahrheit gibt und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, schicke ich diesen Gruß aus einem Zeitalter der Gleichmachung und der Vereinsamung, dem Zeitalter des Großen Bruders, dem Zeitalter des Zwiegedankens", vertraut er seinem Tagebuch an.

Winston wird, wie kann es anders sein, Opfer des Systems, dem er dient. Intensiver Gehirnwäsche unterzogen und gefoltert und manipuliert, verleugnet er sein Wesen, verrät seine Überzeugungen, räumt ein, dass zweimal zwei fünf ist, und dass er den Großen Bruder liebt. Überall ist das Bild des Diktators zu sehen, niemand kann seinen forschenden Blicken ausweichen. "Der Große Bruder sieht dich an!" heißt es am Beginn des Romans, und dieses Motto durchzieht Orwells Schreckensszenarium. Dieser Große Bruder altert nicht und ist seinen Untertanen vollkommen entrückt. Ihm stehen mächtige Ministerien und eine große Masse williger Helfer zu Gebote, die keine Fragen stellen und nur funktionieren. Da gibt es das Wahrheitsministerium, genannt Miniwahr, das an Goebbels Propagandamaschine erinnert und die dicksten Lügen verbreitet. Es beseitigt letzte Reste von Ethik und Moral und lässt missliebige Schriften verschwinden.

"Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke"

Aus dem Wahrheitsministerium prasselt unentwegt der Slogan "Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke" auf die Bewohner von Ozeanien herab. Indem bestimmte Worte verboten und vergessen sind, verschwinden in dieser Sichtweise scheinbar die Probleme, die sie bezeichnen. So gibt es auch keinen Hunger mehr, weil dieses Wort verboten ist, auch das Fehlen von Freiheit wird nicht mehr als Mangel empfunden, weil der Begriff in so genannten Gedächtnislöchern verschwunden ist. Die Sprache wird auf das Allernotwendigste reduziert und heißt jetzt Neusprech, Bücher großer Autoren verschwinden von der Bildfläche, und wer dennoch wegen ihres Besitzes angezeigt wird, bekommt es mit dem Terrorapparat des "Großen Bruders" zu tun.

Obwohl die Versorgung mit dem Allernötigsten miserabel ist, wird den Menschen weisgemacht, es fehle ihnen an nichts. Sie nehmen den Betrug und andere Lügen ohne zu murren hin und fügen sich dumpf in ihr Schicksal. In diesem Land gelten alle überkommenen Werte nichts - Religion und die Errungenschaften der Aufklärung sind passé, demokratische Mitbestimmung wird nicht mehr gebraucht. Wahrheit verkommt zur Lüge, Liebe ist Verrat, Leben hat keinen Wert, aus Wohlstand wird Armut und Wissen zur Gefahr. Ozeanien lebt von der Lüge und befindet sich unter ständiger Beobachtung und Aufsicht durch eine unsichtbare Macht. Statistiken werden gefälscht, um Wirtschaftswachstum vorzugaukeln, dabei sieht jeder, dass nur der Mangel verwaltet wird. Indem bestimmte Worte ausradiert werden, verschwinden, so scheint es, auch die Probleme, die sie bezeichnen.

Mundtot gemacht und zur Dummheit verurteilt

Absichtlich wird im Land Ozeanien, in dem Zwangarbeitslager Lustlager und das Kriegsministerium Friedensministerium genannt werden und Begriffe wie Ehre, Gerechtigkeit, Moral, Internationalismus, Demokratie, Solidarität, Wissenschaft und Religion ausradiert sind, die so genannten Proles, also die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, in Armut und Unwissenheit gehalten. Mundtot gemacht und zur Dummheit verurteilt, stellen sie für das Regime keine Gefahr dar. Vielleicht wusste Orwell, dass die Nazis während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen die Geisteselite ermordeten und für die Masse der Bevölkerung nur minimalsten Unterricht vorsahen, der gerade einmal ausreicht, dass die unterdrückte, geknebelte und gelegentlich mit Alkohol betäubte Bevölkerung ohne zu Murren die Befehle der deutschen "Herrenmenschen" versteht und ergeben ausführt?

Hitlers Emissär im bsetzten Polen, Generalgouverneur Hans Frank, zufolge sollte den Bewohner jedwede Selbstständigkeit genommen werden. Eigenständiges Denken, ja auch der Rückblick auf die Landesgeschichte und Pflege der eigenen Kultur waren unerwünscht. Reichsführer SS Heinrich Himmler beschrieb das bewusste Absenken des kulturellen Niveaus so: "Für die nicht-deutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein, und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schule geben. […] Diese Bevölkerung wird als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten) stellen." Absichtlich erhielten die polnischen Zwangsarbeiter minimale Nahrungsmittelrationen. Ihre Kinder ließen die Besatzer verwahrlosen und verhungern. Unbedingt wollten sie verhindern, dass sie sich eines Tages als Erwachsene gegen ihre Unterdrücker erheben.

Die Befehle lesen sich, als seien sie Orwells "1984" entnommen. Die ständig geführten Kriege dienen dort und leider auch in der Wirklichkeit als Argument und Entschuldigung dafür, dass die Wirtschaft nicht voran kommt und sich Ozeanien in einer prekären Lage befindet. Die mit Schnulzenliedern, billigen Groschenheften und pornografischem Material nach dem antiken Motto "Brot und Spiele" bei Laune gehaltenen Proles ist jedes Interesse abhanden gekommen, den Überwachungsstaat zu kritisieren oder gar einen Umsturz herbeizuführen.

In der kommunistischen Welt auf dem Index

George Orwell starb, bevor sein Roman veröffentlicht wurde. Als er erschienen war, hat man ihn als Kritik an der Parteiendiktatur von Josef Stalin interpretiert, doch geht die Zielrichtung viel weiter. Sie richtet sich, in der Zeit des Kalten Kriegs geschrieben und noch unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen und des Zweiten Weltkriegs stehend, sowohl gegen den Nazismus und das Sowjetsystem als auch gegen den Kapitalismus ganz allgemein. Es versteht sich, dass "1984" in den kommunistischen Ländern und in der DDR verboten war. Verbindungen zwischen den Machenschaften und Verbrechen des so genannten Liebesministerium, in dem man eine Art Ministerium für Staatssicherheit sehen könnte, und dem Realsozialismus anzustellen, galt als Staatsverbrechen und wurde streng geahndet. Wenn im November 1989 der seines Postens enthobene Stasi-Minister Erich Mielke in der Ostberliner Volkskammer behaupten konnte "Ich liebe doch alle, alle Menschen", mag er von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugt gewesen sein. Ob er dabei an "1984" und das dort beschriebene Liebesministerium gedacht hat, bleibt dahin gestellt. Andere taten das, und so ist Mielke auch mit diesem fatalen Satz in böser Erinnerung.

Übel spielten die DDR-Justiz und das Ministerium für Staatssicherheit als verlängerter Arm der SED all jenen mit, die im Herrschaftsbereich von Ulbricht und Honecker anders dachten, als es Vorschrift war, und die aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat nur raus wollten. So erging es auch dem zwanzigjährigen Baldur Haase, der im Januar 1959 festgenommen wurde, weil er von einem Brieffreund im Westen den in der DDR verbotenen Roman "1984" zugeschickt bekam. Er las das Buch und erkannte Parallelen zwischen den von Orwell beschriebenen Zuständen in Ozeanien und denen in der DDR. Der Offsetdrucker hielt mit seiner Meinung gegenüber Freunden nicht hinterm Berg und gab den Roman an Freunde weiter. Prompt wurde ihm daraus ein Strick gedreht, ebenso aus seiner über Deckadressen laufenden Korrespondenz mit dem Westberliner Sender RIAS. Strafe für verbotene Lektüre und Kritik an der DDR

Wegen "staatsgefährdender Hetze" und "Sammlung von Nachrichten" wurde Baldur Haase zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und April 1961 aus der Haft entlassen, also noch vor dem Mauerbau am 13. August 1961. Durch das Gerichtsverfahren und die Haft schwer gezeichnet, verfasste er Jahrzehnte später, als man das endlich konnte, ein Buch über seine Leidenschaft, mit Brieffreunden in aller Welt Erlebnisse und Gedanken auszutauschen und was ihm die Lektüre von "1984" eingebracht hat. Seinem westdeutschen Brieffreund gegenüber hatte er sich kritisch über das Leben in der DDR, ohne zu ahnen, dass die Stasi mitliest. Vom eigenen Schwager denunziert, wird Haase verhaftet. Im Stasigefängnis grübelt der Häftling 311 darüber, was er verbrochen haben soll, und versteht die Vorwürfe nicht. Haase berichtete später, der Vernehmer habe ihm aus seinen Briefen vorgelesen. "Er hat sich an meinem Entsetzten geweidet. Hat höhnisch gelächelt, wenn ich dann mal erschrocken war und ganz perplex, woher er das wusste. Ich war sehr in Angstzustände versetzt. Ich hab dann auch zugegeben, das ist von mir." Vor Gericht gestellt, brach der ob der Anschuldigungen entsetzte junge Mann in Tränen aus und wurde deshalb angebrüllt. Im Rückblick spricht Haase von Freisler-Methoden der Einschüchterung.

"1984" ist aktuell denn je, nicht nur weil "Big Brother" und ähnliche Formate durch fragwürdige Fernsehsendungen, die bis ins Intimste hineinschauen, präsent sind, wobei viele Zuschauer nicht wissen, woher der Titel stammt. Die Überwachung unbescholtener Bürger im vereinigten Deutschland mit der Begründung, man müsse sie vor terroristischen Anschlägen, aber vor sich selber schützen, verbunden mit einem um sich greifenden Misstrauen und allgemeiner Verunsicherung fordert geradezu zu Vergleichen mit heute und dem heraus, wovor George Orwell in genial-hellsichtiger Weise gewarnt hat. Es lohnt sich, diesen Roman immer mal wieder zur Hand zu nehmen, um zu sehen, wie fragil Demokratie, Freiheit und ethische Werte sind und warum wir sie tagtäglich verteidigt werden müssen. Denn wir sehen ja, wie um uns herum diktatorische Regimes ihre Untertanen unterdrücken und bevormunden und dabei behaupten, nur das "Beste" für sie zu wollen. Was sie darunter verstehen, sagen sie nicht.

19. August 2020

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