"Aber das Aufgeschriebene lebt fort"

Streifzüge mit Julius Rodenberg durch Berlin vor und nach der Reichsgründung von 1871



Weil er aus einer jüdischen Familie stammte, haben die Nationalsozialisten an ihm und anderen Autoren und Künstlern ihre rassistische Wut an Julius Rodenberg (1831-1914) ausgelassen. Wenn es unumgänglich war, aus seinem umfangreichen Werk zu zitieren, gab man die betreffenden Stellen als die eines "unbekannten Dichters" aus. Erst Heinz Knobloch ist es zu verdanken, dass man mittels der von ihm kommentierten Anthologie in die von Rodenberg beschriebene, alles andere als lebensfreundliche Welt des alten Berlin abtauchen kann.



Ganz so geordnet und biedermeierlich-gemütlich ging es nicht überall in der preußischen Haupt- und Residenzstadt zu, wie dieser Holzstich von Theodor Hosemann aus dem Jahr 1842 glauben macht. Der Kampf um das tägliche Brot hat unzählige Leute verbittert und auf die Barrikaden getrieben.



Vielen Berlinern ging es nicht gut. Sie waren auf Volks- und Suppenküchen angewiesen, schliefen in Obdachlosenheimen und hielten sich mit kriminellen Aktivitäten über Wasser, wie Julius Rodenberg zu berichten weiß.





Das quirlige Leben auf dem Bahnhof Friedrichstraße sowie dem Alexanderplatz und an anderen Orten der jungen Reichshauptstadt übte auf Julius Rodenberg eine magische Wirkung aus. Seine Beschreibungen sind auch heute so wichtig, dass man sie in Berlin-Publikationen zitieren kann.



Nicht alle Marktfrauen waren begeistert, als sie genötigt wurden, auf größere Plätze auszuweichen oder gar ihre Stände in den modernen Markthallen aufzuschlagen. Hohe Mieten und geringere Verkaufserlöse waren die Folge, und Julius Rodenberg erfährt das bei seinen Streifzügen aus erster Hand.



Das Nicolaihaus in der Brüderstraße 13 war nach dem Zweiten Weltkrieg Institut für Denkmalpflege und ist heute der Berliner Sitz der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.



Manche Grabsteine, die der Schriftsteller und Stadtreporter auf dem Friedhof der Märzgefallenen an der Landsberger Allee gesehen hatte, stehen heute noch, eine Gedenkstätte berichtet seit einigen Jahren, was 1848/49 und 1918/19 in Berlin geschehen ist und wer hier bestattet ist.



Was Julius Rodenberg auf seinen Touren der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt sieht und erfährt und mit wem er spricht, sind ihm viele warme Worte wert. Das Treiben auf den Bahnhöfen und der rege Verkehr auf den Straßen und die Stimmungen in stillen Winkeln sind so gut beschrieben, dass man sie auch heute getrost für Beiträge über das längst untergegangene Berlin verwenden kann. (Fotos/Repros: Caspar)

Sich als Buchautor und Journalist durchs Leben zu schlagen, war in alten Zeiten nicht immer einfach, wie das Beispiel von Theodor Fontane zeigt, und ist es auch heute nicht. Wer sich am "Markt" halten wollte, musste fleißig und innovativ sein. Der Berliner Journalist und Buchautor Julius Rodenberg (1831-1914) war da keine Ausnahme. Eigentlich hieß der Spross einer in Rodenberg (Hessen) ansässigen jüdischen Familie Julius Levy, doch legte er diesen seinem Fortkommen wohl hinderlichen Namen ab und nannte sich, einem Ratschlag seines Berliner Schriftstellerkollegen Karl August Varnhagen von Ense folgend, Julius Rodenberg und trat zum Katholizismus über. Seine jüdische Herkunft sorgte in der Zeit des Nationalsozialismus dafür, dass sein umfangreiches schriftstellerisches Oeuvre totgeschwiegen wurde und der Autor in Vergessenheit geriet.

Rodenberg brachte von 1861 bis 1863 in Berlin die Unterhaltungszeitschrift "Deutsches Magazin" heraus, redigierte danach die literarische Beilage der illustrierten Modezeitung "Der Bazar", rief 1867 gemeinsam mit Ernst Dohm die Zeitschrift "Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft" ins Leben, an Berthold Auerbach, Theodor Fontane, Karl Gutzkow, Paul Heyse (Literaturnobelpreisträger von 1910), Theodor Storm, Iwan Turgenjew mitarbeiteten. Damit nicht genug brachte er die Monatszeitschrift "Deutsche Rundschau" heraus, die sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur führenden Kulturzeitschrift im Deutschen Reich entwickelte. Neben seiner Arbeit als Autor zahlreicher Romane, Opernlibretti, Lieder, Reportagen über seine Reisen in Deutschland und dem Ausland sowie Festschriften und eines Erinnerungsbuches und Verleger engagierte sich Rodenberg, 1899 mit dem Professorentitel ausgezeichnet, für das Goethe-Nationalmuseum in Weimar und die Deutsche Schillerstiftung. Außerdem gehörte er 1885 zu den Mitbegründern der bis heute aktiven Goethe-Gesellschaft.

Elendsquartiere und Mietskasernen

Julius Rodenberg beschreibt, was er bei seinen Spaziergängen durch die preußische und ab 1871 deutsche Haupt- und Residenzstadt sah, vor allem das Leben, Wohnen und Arbeiten der so genannten kleinen Leute, aber auch Straßen und Plätze, deren Gesicht sich unter Opferung der alten Häuser veränderte. Immer wieder stellte er sich beim Verlassen seiner Wohnung die Frage "Wohin nun, mein Freund? Ganz Berlin gehört dir, entscheide dich, triff die Wahl!" und machte sich auf den Weg, Berlin zu entdecken und zu beschreiben. Er sah sich gründlich um und schrieb seine Eindrücke präzise auf, die Veränderungen, Abrisse und Neubauten. Die neue Reichshauptstadt legte Wert auf ein modernes Image, da passten die Behausungen der Proletarier mit den dunklen Hinterhöfen und den übel riechenden Abflussrinnen aus vergangenen Zeiten nicht mehr hinein. Doch wie man weiß, blieben ungeachtet vielfältiger Modernisierungsmaßnahmen nach der Reichseinigung von 1871 noch manche Elendsquartiere und Mietskasernen stehen, bis sie bei den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbauarbeiten danach im Orkus der Geschichte verschwanden. Was dem Kahlschlag und den Folgen von Vernachlässigung entging, wurde nach der Wiedervereinigung 1990 aufwändig saniert und restauriert, was zu bedeutenden, für viele Bewohner nicht mehr bezahlbaren Mieten und zur Umwandlung vieler Wohnungen in Eigentumswohnungen führte.

Rodenbergs Berlin-Beschreibungen wurden 1987 in einer von Gisela Lüttig und einem umfangreichen Nachwort von Heinz Knobloch herausgegebenen Auswahl wieder einem größeren Publikum bekannt gemacht. Das Buch "Julius Rodenberg. Bilder aus dem Berliner Leben" erschien im Verlag Rütten & Loening, hat 395 Seiten und ist mit zahlreichen historischen Fotos aus der Stadt an der Spree ausgestattet (ISBN 3-352-00072-7). Darin zu lesen und sich in die versunkene Welt vor und nach der Reichseinigung von 1871 zu versetzen, ist ausgesprochen lehrreich und spannend. Denn was hat der Verfasser nicht alles gesehen und erlebt? Was hat er bei seinen Wanderungen aufgestöbert, vor welchen Denkmälern hat er gestanden, in welche Abgründe hat er geschaut? Wie hat er die vielfältigen Eindrücke und Informationen sortiert, verarbeitet und aufgeschrieben?

Instruktiven Nachwort von Heinz Knobloch

Im instruktiven Nachwort der von Heinz Knobloch für die aus mehreren Berlin-Büchern von Julius Rodenberg (1831-1914) zusammengestellten Anthologie findet sich ein Gedicht des wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nazis totgeschwiegen Autors: "Was das Schicksal schickt, ertragen / Auch im Leide nicht verzagen, / Ob in Freude, ob in Trauer - / Glaube niemals an die Dauer. / Trachte nur; dass vor dem Ende / Sich dein inneres Sein vollende." Knobloch, der als Feuilletonist der Berliner "Wochenpost" über "Berliner Grabsteine" schrieb und als Buchautor weithin bekannt und hoch geachtet wurde, schließt seine Betrachtung mit dem Fontane-Satz "Aber nur das Aufgeschriebene lebt fort."

Bei seinen Stadtwanderungen lässt Julius Rodenberg nichts aus. Er besucht so genannte Lesekonditoreien, wo man sich bei Kaffee, Kuchen und anderen Leckereien in Journale aller Art vertiefen kann, und sieht sich den damals noch gewöhnungsbedürftigen Markthallen um, in denen hygienischer als bisher unter freiem Himmel Fleisch und andere verderbliche Waren verkauft werden. Er schaut sich in das berüchtigte, von Zeitgenossen als Hauptquartier des Pöbels bezeichnete Voigtland und die andern Elendsviertel der Vorstädte und den zu ihrer Auflockerung und Verbesserung der Volksgesundheit geschaffenen Parkanlagen um. Er weilt in Gedanken in längst wieder geschlossenen Salons des "geistreichen Berlin" und hält Zwiesprache mit dort verkehrenden Künstlern und Gelehrten. Er macht sich Gedanken über stolze Herrscher- und Kriegerdenkmäler, mit denen Berlin reichlich und nicht immer unter dem Beifall des Publikums bestückt wird, und besucht Kirchen und Synagogen. Er kehrt in vornehmen Restaurants ebenso wie in einfachen Lokalen ein und schaut zu, wie Arbeiter aus den Fabriken ihren Kneipen und Behausungen zustreben.

Hausbesuch bei Friedrich Nicolai in der Brüderstraße

Interesse verdient neben vielem anderen das, was Rodenberg über das Nicolaihaus Brüderstraße 13 nicht weit vom Stadtschloss erzählt, über ein altes Bürgergebäude mit Seitenflügeln und einem malerischen Hof, das wie durch ein Wunder die Bombardierungen der Innenstadt im Zweiten Weltkrieg, wenn auch beschädigt, überstanden hat, zeitweilig ein Lessing-Museum beherbergte und lange Sitz der DDR-Denkmalpflege war. Friedrich Nicolai, der Bewohner und Namensgeber, sei ohne Zweifel kraft eigener Initiative einflussreichste Buchhändler Berlins gewesen, schreibt Rodenberg. Vom Buchverkauf allein habe er nicht leben können, deshalb brachte er Schriftenreihen wie die Allgemeine Deutsche Bibliothek" (ADB) und "Briefe, die neueste Literatur betreffend" heraus und publizierte über seine Reisen, seine Stadt Berlin und ihre Umgebungen.

Um die 268 Bände der ADB füllen zu können, bediente sich Nicolai der Hilfe von 800 Korrespondenten, was einen enormen Briefwechsel unter den Bedingungen der Postkutschenzeit mit sich brachte. Der Schlaukopf Nicolai, wie Rodenberg den Verleger, Buchhändler und Schriftsteller nennt, nahm es gelegentlich auf sich, Bücher und Studien zu drucken, bei denen es klar war, dass sie schwer verkäuflich sind. "Was Ihr Werk von den Ahnenbildern betrifft, so würde ich, wenn es Ihnen an einem Verleger fehlen könnte, sogleich den Verlag übernehmen", schrieb er an Gotthold Ephraim Lessing. Nicolai nannte dieses Entgegenkommen die geringste Probe seiner Freundschaft, um aber gleich mit Blick auf geringe Einnahmen hinzuzufügen, dass es auch ein anderer Verleger sein könnte.

Verkaufsstände alter Klamotten

Die Brüderstraße zwischen der Petrikirche und dem Schlossplatz war eine der ältesten und vornehmsten Straßen der Residenz, und das Haus Nummer 13 war eine berühmte Adresse, in der die Crème des geistigen Berlin verkehrte, wie die ganze Gegend ein "fashionabler Platz". Davon war zu Rodenbergs Zeiten nur noch wenig zu spüren. In einer Anmerkung vom 9. Februar 1887 hält der Berlin-Reporter, wie wir heute sagen würden, fest: "Wer in diesen Tagen nach dem Mühlendamm ginge, der würde freilich unter dem grauen Winterhimmel nur noch Trümmer sehn, die eine Seite, mit dem Blick auf das Wasser, schon ganz freigelegt, auf der andern das beginnende Werk der Zerstörung und aus dem Bauschutt der niedersinkenden Bögen und Arkaden hier und dort einen letzten aufragenden Pfeiler mit der alten, wohlbekannten Inschrift ,Hier werden die höchsten Preise für getragene Kleidungsstücke gezahlt'." Mit diesem Seitenblick war gemeint, dass man hier alte "Klamotten", wie wir heute sagen würden, quasi unter den Augen von Hohenzollernherrschern erstehen kann und der Glanz alter Zeiten schon lange verblasst ist, was Rodenberg auch beim Besuch anderer Gegenden in Berlin feststellen muss.

Bei seinen Friedhofsbesuchen bemerkt Rodenberg wohlgefällig, wie die Berliner liebevoll die Gräber pflegen und sie mit Blumen bepflanzen. "Es ist hierein schöner Gräberkult, der hier vor den Toren an den Sommersonntagen gefeiert wird. Nicht leicht zu finden sei der an der Landsberger Allee gelegene Friedhof der Märzgefallenen, die Begräbnisstätte der im März 1848 von preußischen Soldaten erschossenen Barrikadenkämpfer und - einige Jahre nach Rodenbergs Tod - der Opfer der Novemberrevolution von 1918 und der sich anschließenden Mordaktionen. "Den Soldaten, welche die Opfer dieser unseligen Kämpfe wurden, ist ein Nationaldenkmal errichtet worden im Park der Invaliden; dieser hier haben kein anderes Denkmal als halb eingesunkene Gräber und da und dort einen verwelkten Kranz. [...] Denn ohne Unterschied der Konfession ruhen die Toten hier, meist Männer aus den niederen und mittleren Ständen, Arbeiter jeder Art, Maschinenarbeiter, Kattundrucker, Buchdrucker, Buchhalter - nicht wenige darunter, die den Anfang der Zwanziger kaum überschritten."

Erzähler funkelnder Berlin-Geschichte

Julius Rodenberg, der Erzähler funkelnder Berlin-Geschichte, wie Knobloch schreibt, lief für seine Reportagen nicht nur Straßen auf und ab und schaute Plätze und Parkanlagen an, sondern auch wissenschaftliche Institute und Krankenhäuser und Friedhöfe, die an noch unerschlossenen Stellen der rasch wachsenden Reichshauptstadt entstanden. Im Kapitel "Der Norden Berlins" besucht er neben anderen interessanten Orten auch den Begräbnisplatz der Charité, auf dem Verstorbene ohne Angehörigen bestattet werden. In die Anatomie kommen zu Lehrzwecken für Medizinstudenten Leichen notorisch ganz verkommener Personen, um die sich niemand kümmert, fremd, arm und ohne Familie, wie Rodenberg schreibt. "So rapide mit der Größe [Berlins, H. C.] wächst auch die Armut und das Elend. Diese so genannten ,Anatomieleichen', die Särge mit Körperteilen aus der Anatomie, finden in einer abgesonderten Stelle des Armenkirchhofs ihren Platz, und sie sind es, welche den Armenkirchhöfen etwas so unsäglich Trauriges geben."

Nach ihrer Schließung 1879 und 1881 wurde draußen in Friedrichsfelde ein großer Gemeindefriedhof nicht nur für Arme, sondern für jeden der hier zu ruhen wünschte, sowie für alle Konfessionen angelegt. Als Rodenberg das schrieb, konnte er nicht wissen, dass er 1914 dort selber bestattet wird. Der Berliner Magistrat schrieb in seinem Nachruf: "Getreu seinem Wunsche und Wort ,Pietät für das, was gewesen' zu erwecken, wollen wir das, was er, Julius Rodenberg, uns gewesen, in pietätvollem Andenken bewahren." Rund 60 Jahre später wurde sein Grab in der Mittelallee Rondell Grab Nr. 4 "ohne zwingenden Grund", wie Heinz Knobloch im Nachwort schreibt, eingeebnet. Rodenberg war vergessen, lediglich erinnert in der Hauptstadt eine von der Schönhauser Allee stadtauswärts rechts abgehende Straße an ihn. "In memoriam Julius Rodenberg 1831 - 1914 - Dr. Ernst Friedel 1837 - 1918" lautet die Inschrift auf der Granitplatte, die 1993 am Ort von Rodenbergs und Friedels aufgelassene Ruhestätte in der Mittelallee markiert. Ernst Friedel war Stadtrat und Heimatforscher, und ihm verdankt der Zentralfriedhof ebenso seine Existenz wie das Märkische Museum.

16. Dezember 2020

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